Über die Uraufführung des zweiten Teils der »Gesänge für Bariton und Orchester« von Wilfried Krätzschmar
Bereits zum 2. Mal war die Marienkirche in Pirna, diesmal am 7. September 2023, Aufführungsort einer Komposition von Wilfried Krätzschmar, nachdem hier am 15. September 2022 der erste der drei Gesänge auf einen Text des Häuptlings Seattle »Wir sind Teil der Erde« als Mahnung an das amerikanische Volk von 1855 erklungen war. Wiederum hatten sich Andreas Scheibner (Bariton) und die Elbland Philharmonie Sachsen unter der Leitung von Ekkehard Klemm des neuen Werkes angenommen, und es wird voraussichtlich in einem Jahr der dritte Gesang auf den Text »Alles was geschieht« von Günther Eich sowie ein Epilog für Orchester als Abschluss des Zyklus folgen.
Den aufmerksamen und empfindsamen Zeitgenossen Krätzschmar bewegen, wie wohl auch viele seiner Mitmenschen, die zunehmenden negativen Veränderungen im Lande, die zunehmende Radikalisierung bestimmter politischer Kräfte, der zunehmende Verlust an gesellschaftlichem Konsens. Im Zusammenhang mit mehreren Gedenktagen: die bevorstehende 125. Wiederkehr des Geburtstages von Erich Kästner. Mit dessen Rede zur fünfzwanzigsten Wiederkehr des Tags der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 in Berlin vor der P.E.N.-Tagung 1958 in Hamburg befasste sich der Komponist ab 2017 und gliederte sie in fünf Teile. Schon Kästner war noch auf einen anderen Mahner getroffen, auf Heinrich Heine, dessen hellsichtiger Satz von 1823 „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“ mir als Nachgeborenem von 1941 schon immer einen Schrecken eingejagt hat.
»Über das Verbrennen von Büchern« ist ein beklemmender Text voller erschreckender Gegensatz-Paare: „Die Geschichte des Geistes … ist zugleich die Geschichte des Ungeistes“, „die Geschichte der Literatur… ist zugleich die Geschichte des Hasses“. Kästner erinnert daran, dass Machthaber zu allen Zeiten ihren Ungeist mit Feuer haben herrschen lassen: „Es begann mit Fackelzügen und endete mit Feuerbestattung. Es begann mit einem brennenden Reichstag und endete in der brennenden Reichskanzlei.“ Doch Kästner belässt es nicht beim Beschreiben, sondern fordert auf: „Man darf nicht warten. Da die Sühne der Schuld nicht folgt im Buch der Geschichte, muss künftig an die rechtzeitige Verhütung der Schuld gedacht werden… Bekämpft den Beginn! Später helfen keine Salben“ (ein Satz von Ovid!).
Was bedarf ist da weiterer Worte? Hier setzt die Musik ein mit geballter Kraft, vor allem im Schlagwerk und den Blechbläsern. Es gibt keine illustrativen Momente, außer dass man die Flammen, von denen viel die Rede ist, hin und wieder züngeln hört. Krätzschmars Komposition ist ein schmerzhafter Kommentar zum Text und ein aufrüttelnder Appell: Auch wenn das Werk kein sehr großes Publikum erreicht hat (es folgte noch eine zweite Aufführung im Dom zu Meißen) – es kann hinterher niemand sagen, man habe von nichts gewusst.
So steht Wilfried Krätzschmar hier und kann nicht anders als immer wieder an die Vernunft und die Einsicht zu appellieren. Schon in seiner 6. Sinfonie hatte er, von Bild und Text angeregt, jedoch ohne das Wort, mit schmerzlicher Klarheit sein Unbehagen an den negativen Entwicklungen in der Gesellschaft einen unmissverständlichen musikalischen Ausdruck gegeben. Diese Härte der Klangsprache bis zur Schmerzgrenze setzt sich im 2. Gesang unmittelbar fort. Dabei verzichtet der Komponist auf jegliche liebgewordene Spielereien mit dem musikalischen Material, an dem die neue Musik oft ihre Freude hat: alles ist dem Ernst des musikalischen Ausdrucks untergeordnet. Gleich einem Kondukt endet der fünfte Teil mit zehn unerbittlichen Plattenglocken-Schlägen und Tam-Tam, also nicht mit dem weichen runden Klang des üblichen Gongs, sondern mit metallisch harten Schlägen (heavy metal ist dagegen weich zu nennen!) auf die fünf letzten Worte der Rede: „Die Mahnung gilt. Hier. Heute. Immer. Und überall.“
Andreas Scheibner war nach der überzeugenden Darstellung der Häuptlings-Rede von 2022 der beste Anwalt, der sich dieser herausfordernden Aufgabe stellte und sich in den Klangentfaltungen behaupten konnte. Dennoch war man dankbar, dass der Musikdramaturg der Elbland-Philharmonie, Thomas Herm, den Text der Rede Kästners im Programmheft abdrucken ließ. Das Orchester, nun schon vertraut mit den Anforderungen, die Krätzschmar stellt, bestritt sichtbar und hörbar engagiert seinen schwierigen Part und ließ sich voller Vertrauen von Ekkehard Klemm, bei dem solche komplexen Partituren in den besten Händen liegen, durch die Klanggebirge führen.
In Bezug gestellt war die Uraufführung in diesem Konzert einem anderen sinfonischen Großwerk. Ekkehard Klemm hatte sich in seinen einführenden Worten ganz illuminiert von seiner eigenen Entdeckung der Originalfassung der 3. Sinfonie von Anton Bruckner aus dem Jahr 1873 gezeigt, da hier zum ersten Mal der Sinfoniker Bruckner in seiner ganzen Konsequenz zu erleben sei. Der Komponist hatte mit diesem Werk zu seinen Lebzeiten kein Glück, kürzte es mehrfach und beschnitt durch viele Striche die ursprüngliche Struktur des Werkes, weshalb man die Intentionen des Komponisten schließlich nicht mehr erkennen konnte, die nun in der originalen Fassung zu erleben war: ein unvermitteltes Nebeneinander von kompakten Blöcken, wie es fortan für den Sinfoniker Bruckner typisch werden wird. Der Wechsel der Orchestergruppen erinnert daran, dass Bruckner ein großer Organist in St. Florian zu Linz war, der – offenbar – mit mehreren Händen und Füßen die Orgel traktiert haben muss und von Register zu Register, von Manual zu Manual wechselte. Dieser Wechsel gab dem Werk seine Struktur, und plötzlich erschien die Länge von 75 Minuten, die früher Dirigenten und Orchester abgeschreckt hatte, gar nicht uferlos, sondern die Zeit war plötzlich strukturiert, und der Hörer konnte der Abfolge der einzelnen Abschnitte ohne Mühe folgen.