Beim Konzert der Staatskapelle Dresden am Montagabend im Wiener Musikverein galt es erst einmal, von Loge 8 aus einige Déja-Vus zu entwirren – wäre da nicht die Kadenz zu Beginn des Bratschenkonzerts „Der Schwanendreher“ von Paul Hindemith gewesen, mit der der Solist Antoine Tamestit zum absoluten Hinhören zwang und quasi erst einmal ganz alleine die Saisoneröffnung übernahm. Ja, aber wieso eigentlich in Wien?
Wien natürlich, weil die Musikstadt Dresden ja auch in die Metropolen Europas ausstrahlt, so etwa bei der traditionellen Gastspieltour zu Beginn der Konzertsaison der Staatskapelle Dresden. Diese wurde vor einer Woche im Semperbau eröffnet, sodann wurden gleich die Instrumentenkoffer gepackt, neben Wien standen noch Konzerte in Amsterdam, Luzern und Frankfurt an. Im letzten Jahr hatte die Staatskapelle die Saison im Konzerthaus Wien mit Bruckners 5. Sinfonie eröffnet, ebenfalls mit Thielemann am Pult. Nun freute sich Intendant Dr. Stephan Pauly, das hochkarätige Ensemble im Musikverein begrüßen zu dürfen – Dirigent wie Orchester sind regelmäßige, gern gehörte Gäste, und Christian Thielemann eröffnet damit auch eine zweite Residenz am Haus in Folge.
Das nächste Déja-Vu galt dem Solisten, denn der war ja Capell-Solist im Jahr 2021/2022 und das passte offenbar so gut, dass nun die Wiedereinladung gelang, diesmal mit einem Konzert, das sich der Hindemith ja 1935 auf den eigenen Leib geschrieben hatte. Dementsprechend geht der Großteil der Impulse auch vom Solopart aus, während man das reduziert besetzte Orchester im Hintergrund in den schnellen Sätzen fast als Combo wahrnimmt. Dafür allerdings hätte der Tanzfuss von Thielemann noch beherzter aufsetzen dürfen und gerade in der Musikvereins-Akustik wurde die nötige Schärfe gerade von Pulsierungen und Bläserakkorden nicht erreicht, obwohl Tamestit an der Bühnenkante mit höchster Aktivität agierte.
Ab und an blitzte auch Raffinement auf, und es ist beinahe schade, dass Thielemann in der nun elf Jahre währenden Beziehung zur Dresdner Staatskapelle kaum mehr von diesem Komponisten gespielt hat. Die Interpretation ließ aber auch einige Wünsche von besserer Intonation und Homogenität aufkommen, vielleicht war da schon eine leichte Tourmüdigkeit zu spüren, nachdem das Orchester einen langen Eisenbahnritt quer durch die Alpen hinter sich hatte.
Die Déja-Vus um Richard Strauss‘ Alpensymphonie mehren sich natürlich, wenn man in den letzten Jahren sowohl den Dirigenten und seine Konzerte als auch die Aufführungsorte verfolgt hat. Sicher führe ich kein Alpensymphonie-Tagebuch, doch es ist bekannt, dass das Werk selbstverständlich zum Kernrepertoire der Dresdner Staatskapelle gehört, mit der Uraufführung 1915 kommt ja noch die Achse Dresden-Berlin hinzu. Thielemann wiederum wählte das Werk für sein Pult-Debüt (im Alter von 41 Jahren) bei den Wiener Philharmonikern im Jahr 2000, das gleich für die Ewigkeit auf CD festgehalten wurde.
Erst im Februar erklang das Werk unter seinen Händen im Musikverein, dort aber tatsächlich erneut mit den Wiener Philharmonikern und Schönbergs „Verklärter Nacht“ an der Seite. Einen Monat später wirbelte erneut die Windmaschine an der Bösendorferstraße: Daniel Harding hatte das Stück mit dem Schwedischen Rundfunkorchester bei einem Tourgastspiel im April auf’s Programm gesetzt.
Ein im Wortsinn donnerndes Argument für dieses Stück ist ja, dass sowohl die Wiener als auch die Dresdner selten von Gewittern heimgesucht werden. Um beide Städte scheinen die Fronten regelmäßig einen Bogen zu machen, was zur erhöhten Schwüle im Elbkessel wie im Donautal beizutragen scheint – Kachelmann widerspricht natürlich solchen Wetterschwurbeleien. Bei einem doch fast zu heißem Wiener Spätsommerwetter gelang im Musikverein eine Bergbesteigung eher seltsamer Art, denn bis zum in der Partitur bezeichneten Gipfelziel waren die Dresdner nicht nur ungewöhnlich flott, sondern auch merkwürdig belanglos unterwegs. Nichts vom Zauber des geschliffenen Klangs des Ensembles gerade in Strauss-Werken wollte sich einstellen, dafür – und das ist ungewöhnlich in einem Thielemann-Konzert zu konstatieren – hätte sich mehr Atmen und Ruhe einstellen müssen.
Anderes wiederum kam nicht recht vom Fleck: das reinigende Gewitter leitete Thielemann mit strengem Puls, aber ohne nennenswerte Kraftanstrengung, so dass man quasi hinter einer sicheren Scheibe das Unwetter gefahrlos vorbeiziehen sah. Zum Schluss durften die Sonnenschirme wieder aufgespannt werden, Strauss gönnt sich ein letztes Bier vor’m Hinunterschlurfen, da war es dann endlich auch auf der Bühne schön. Und natürlich darf der Glanz der Horngruppe hier nicht unerwähnt bleiben, die in der zugegebenen Mondscheinmusik aus „Capriccio“ sogar noch etwas Schmelz beisteuerten. Sodann begann die zumindest in Wien hinlänglich bekannte Thielemann-Applaus-Show, die wenig mit der Aufführung zu tun hat. Aber der Dirigent freut sich über seinen Fanclub, der mittlerweile Kühen ähnlich (damit zum Stück passend) vom Balkon bölkt und ihn immer wieder auf die Bühne bittet, während das Orchester längst im Bus sitzt.
Um Klassen besser erschien die Aufführung der Alpensymphonie vor einem guten halben Jahr mit den Wienern, was nicht ein neues Fass bei Orchestervergleichen (in einer aktuellen Kritiker-Umfrage bei bachtrack erscheinen die Dresdner nicht mehr unter den ersten Zehn) aufmachen soll, denn die Tagesform zählt ja auch. Trotzdem erscheint im nunmehr letzten Amtszeitjahr von Thielemann in Dresden bei allem Können des Ensembles der Wille zu herausragend – dieser Anspruch sollte im Mindesten gelten – geformten gemeinsamen musikalischen Höhepunkten nicht mehr im Ergebnis spürbar.