In seinem Kultbuch »Verhaltenslehren der Kälte« beschreibt der Germanist Helmut Lethen die ästhetisch-anthropologische Kühle der Neuen Sachlichkeit. Nun gehört Puccinis Turandot sicher nicht zu dieser spezifischen deutschen Spielart der Avantgarden, fällt aber ebenso in die Zwischenkriegszeit der 20er Jahre. Eiskalt lässt Puccinis Märchenprinzessin, ganz femme fatale, jeden ihrer Verehrer, der ihre drei Rätsel nicht zu lösen vermag, ermorden. Liù benennt in ihrer Arie „Tu che di gel sei cinta” genau diese Kälte des Herzens, die Kalafs Liebe zum Schmelzen bringen solle und werde, um Turandot von ihrer kühlen Starre zu erlösen.
Die französische Regisseurin Marie-Eve Signeyrole erkennt in ihrer Neuinszenierung an der Semperoper in Turandots Brutalität eine Vielzahl von Parallelen zu einem Blockbuster unserer Zeit. Suzanne Collins’ Hunger Games waren bereits in Buchform ein Verkaufsschlager und gehören spätestens seit ihrer Adaption für die Leinwand zum Echoraum kultureller Dystopien. Interessanterweise erfreuen sich die Spiele, in denen Teenager zur Belustigung einer Oberschicht im Kampf Mensch gegen Mensch um ihr eigenes Überleben kämpfen, sowohl in rechten als auch linken Kreisen in den USA großer Beliebtheit. Die einen erkennen in den Sci-fi-Romanen eine übermächtige Regierung, die maßlos in die Belange der einfachen Menschen eingreift; die anderen verstehen es als Kapitalismuskritik, wenn die Kombattanten zur Unterhaltung einer kleinen finanzstarken Elite gezwungen werden, ihre eigene Menschlichkeit im Überlebenskampf zu opfern.
In der Semperoper kommt es nun also zu den Turandot Games: marktschreierische Lautsprecherdurchsagen, Suchscheinwerfer wie im Stadionkonzert, paramilitärische Ordnerinnen, Henker in Lack und Leder und ein riesiger Blutfleck auf dem Bühnenboden. Hier geht’s zur Sache! Hier kitzeln wir Ihre niederen Instinkte! Zugleich setzt Signeyrole auf Live-Bilder. Überlebensgroß projizierte Gesichter treten in Konkurrenz zu einer meist schon übervollen Bühne. Eingeblendete Hashtags orientieren kurz in den Grundemotionen: wahre Liebe, Verrat, Familie. Die Brutalität einer Reality-Bildästhetik spiegelt und bricht sich in den märchenhaften Fantasie-Welten der Oper. Dabei treten zwei vermeintlich konträre Medien der Wärme in einen Wettstreit miteinander, aber auch wider die Kältemaschinen der Moderne. Oper und Genrefilm glühen heiß. Zu heiß? Verbrennen wir uns an den emotional brodelnden Dramaturgien Hollywoods oder sprengt die grenzenlose Liebe der Oper unsere Thermostate der Realität? Wo stehen Sie zwischen Kälte und Wärme, zwischen Verstand und Emotion?
Das Kluge an Signeyroles Turandot ist, dass sie in der Brechung der Genres all diese Fragen stellt, ohne eine thesenartige Antwort aufzudrängen. Im Gegenteil: sie erlaubt eine mitdenkende Faszination, eine erstaunliche Freiheit der Rezeption. In den zirzensischen Wimmelbildern dieser Inszenierung darf jeder und jede frei entscheiden, wo der Blick und die Aufmerksamkeit gerade hinfällt. Und die Verdopplung der Referenzen zwischen 1926, dem Uraufführungsjahr der Oper, und unserer heutigen massenkulturellen Faszination mit den Hunger Games fast hundert Jahre später wirft die Frage auf, welche kollektiven Ängste und Wunschvorstellungen sich hier zwischen Wärme und Kälte ihren Weg bahnen.
Signeyroles inszenatorischer Drahtseilakt mit doppelten Boden wird dabei musikalisch von einem Ensemble höchster Qualität auf Händen getragen. Das Dreieck Turandot, Kalaf, Liù ist mit internationalen Spitzenkräften besetzt. Elisabeth Teige verkörpert die Titelpartie zwischen glitzernd glänzender Kälte und betörenden Bögen. Yonghoon Lees idealtypisch lyrisch-italienischer Tenor wird zur zentralen Wärmequelle, der sich niemand entziehen kann. Und Elbenita Kajtazi beeindruckt besonders mit ihrer alle Sinne und Zustände herausfordernden Pianokultur, in der sich Liebe, Klage und Hoffnung durchströmen. Unter der Leitung des vielbeschäftigten Ivan Repušić, derzeit Chef des Münchner Rundfunkorchesters, designierter Chefdirigent in Weimar und designierter Generalmusikdirektor der Oper Leipzig, überbieten sich Staatskapelle und Opernchor mit Sinfoniechor gegenseitig, beflügeln einander. Mit traumhafter Sicherheit gelingt nahezu jedes Legato, jeder Akzent — verlockende Wärme, analytische Distanz.
Weitere Vorstellungen: 18., 22., 25. November; bis auf Restkarten am 22.11. sind die Vorstellungen bereits ausverkauft