Während der Corona-Lockdowns waren wir uns alle einig. Kunst ist systemrelevant! Die Diskussion zwischen Staatskapell-Chefdirigent Thielemann und Semperopernintendant Theiler, ob denn nun die Kapelle wieder spielen dürfe, wie oft, in welcher Besetzung (die monumentale »Alpensymphonie« war programmiert) und vor wie viel Publikum, ging den vielen soloselbständigen Musikern, Tänzerinnen, Musikpädagogen etc. pp. dabei am Kern des Problems vorbei. Schließlich fragten sich die einen, wie lange sie noch bei vollem Gehalt zuhausesitzen sollten – und die anderen, wie der Hauskredit wohl weiter zu bezahlen sei, wenn seit Monaten sämtliche Engagements abgesagt und die versprochenen staatlichen Coronahilfen so wirklichkeitsfern und bürokratisch kompliziert aufgesetzt waren, dass sie kaum einem Freiberufler aus seiner misslichen Lage halfen.
Sicher, die Politik bemühte sich nach Kräften, die Kulturszene zu unterstützen. Gerade weil wir alle dachten: ohne Konzert, Museum, Galerien, Theater, Oper und Operette oder meinetwegen auch Kino geht doch nichts mehr. Einig waren wir Kulturschaffenden uns ja auch nach einigen mühseligen Versuchen: Streaming mochte eine Alternative für Fernseheulen sein – aber für Konzertliebhaber blieben diese ganzen Onlineübertragungen, Konzertmitschnitte vor leeren Sälen und digitalen Zusammenkünfte von Chören und Alte-Musik-Ensembles eine müde Ersatzbefriedigung. Nein, wir wollten the real thing zurück! So schnell wie möglich. Eine Henze-Sinfonie in der Semperoper, eine Repertoire-Neuentdeckung angeschwipst kichernd im Kraftwerk und ein unbekanntes Streichquartett eines polnischen Kleinmeisters am flackernden Kamin gemeinsam erleben. Die Vorfreude darauf half über die vielen entmutigenden und frustrierenden Momente während der Lockdowns hinweg.
Umso nüchterner blicken wir nun dieser Tage auf das, was von unserem Kulturleben nach vier Jahren (seufz) Corona übrig ist. Die einzigen, für die Konzerte wirklich lebensnotwendig sind, sind offenbar die Musiker, müssen wir bedrückt feststellen. Anders gesagt: der wichtigste Grund, warum wir während der Lockdowns wieder ins Konzert wollten, war, dass wir eben das damals nicht konnten. Nun aber, da weitere Corona-Wellen ohne Kontaktbeschränkung übers Land gerollt sind, ist dieser Grund entfallen. Viele fragen sich am frühen Abend, ob sie den Hintern noch einmal von der Couch hochstemmen sollten – oder ob ein geruhsames Wegdämmern vor dem Bildschirm mit einem feinen französischen Malbec in der Linken und der Fernbedienung mit ihren verführerischen „Netflix“-, „Disney“- und „Amazon-Prime“-Knöpfen in der Rechten nicht die viel bessere Alternative darstellt? Entspannter: kein Stau, kein Schneematsch. Preiswerter sowieso. Und man spart sich die hustenden Sitznachbarn, die von ihren Enkeln zu Weihnachten ein iPhone geschenkt bekommen haben und leider nicht wissen, wie man dieses verflixte Klingeln leisestellen kann.
Jetzt könnte man einfach zugeben: ja, die Kunst hat offenbar ihre Kraft verloren. Gegen ernsthafte gesellschaftliche Verwerfungen hat sie sowieso nie etwas ausrichten können. Musik als völkerverbindende Kraft? Lächerlich. Jeder hört für sich allein. „Herr Nachbar, ja! So lass ich’s auch geschehn: Sie mögen sich die Köpfe spalten, Mag alles durcheinander gehn; Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.“ Die NZZ zitiert in einem düstern Artikel eine Studie, derzufolge fast die Hälfte aller Deutschen niemals ins Theater oder in die Oper gehen, „Tendenz leicht steigend“. Es geht also offenbar doch völlig ohne, das ist nicht wegzudiskutieren. Nicht fern scheint der Punkt, an dem eine klamme Regierung, von wütenden Mistgabelbauern in die Enge getrieben, die Gretchenfrage stellen wird: 885 Euro öffentliche Förderung pro Konzertbesucher, im Ernst?
Als nach wie vor leidenschaftlicher Konzertbesucher bin ich natürlich befangen, über diese Zahlen zu urteilen. Ich sehe allerdings realistisch, dass viele Kulturpolitiker und vor allem leider ihre Förderrichtlinien einem Kulturbild verhaftet sind, das mit Corona endgültig der Vergangenheit angehören müsste. Ein bisschen Geld wird über den Nachwuchs getröpfelt, die großen Wassereimer jedoch werden noch immer über der Hochkultur für ihren immerwährenden Beethoven-Brahms-Bruckner-Kanon ausgeschüttet. Was mögen Maisky (geb. 1948) und Argerich (geb. 1941) für ihr Konzert in der leeren Görlitzer Synagoge 2020 an Honorar aufgerufen haben?
Auf keinen Fall soll und darf dieser Text in Altersdiskriminierung münden. Weder was die Künstler, noch was das Publikum angeht. Er soll vielmehr ein Plädoyer für eine ganz neue Art sein, wie wir alle zusammen Kunst wieder genießen lernen. Wie wir ihre Relevanz neu entdecken und neu definieren für unser Zusammenleben. In diesem neuen Leben hinterfragt jeder Künstler, jede Künstlerin lustvoll seine Rolle, auch nach fünfzig oder sechzig Bühnenjahren noch. Immer wieder. Durchleuchtet sein Repertoire, entdeckt mit und für uns neue Komponistinnen (!) und Komponisten, erfindet Kombinationen, schließt ungewöhnliche Räume und dramaturgische Nebenlinien auf. Es gilt nun vor allem, Neugier zu wecken und das Publikum wieder ins Konzert, in die Oper oder ins Theater zu locken im Gefühl, dort eine Zeitenwende zu erleben, eine neue Kulturexplosion! Es darf kein Zurück mehr geben ins behäbige Alltagsgedöns, in die sichere Bank, die „Egmont“-Ouvertüre, hernach das Mendelssohn-Violinkonzert und die „Vierte“ von Brahms nach der Pause. Brauchen wir die gehypten Dirigenten und Instrumentalsolisten, die mal irgendeinen renommierten Wettbewerb gewonnen haben und nun von weit her für zwei, drei Konzerte anreisen, ihr seit Jahrzehnten gepflegtes enges Repertoire präsentieren und dabei von Dresden nicht mehr sehen als die kürzeste Verbindung zwischen der Starbucksfiliale am Altmarkt und dem Restaurant im Taschenbergpalais?
Das ist der Knackpunkt, an dem die öffentlichen Geldgeber, die hiesigen Intendanten und lokalen Veranstalter Mut zeigen müssen. Mut zu Experimenten, die auch mal schiefgehen dürfen. Mut zu neuen Formaten, provokanten Themen und innovativen Auftragswerken. Mut zu neuen, unbekannten Namen, zu aufregenden Nachwuchskünstlern und Kooperationen. Apropos: das Dresdner Uni-Orchester, das 2018 die deutsche Erstaufführung (!) von Mieczysław Weinbergs Sinfonie Nr. 3 stemmte, ist am 27. Januar erneut im Kulturpalast zu erleben. Sagte ich ‚das‘ Uni-Orchester? Diesmal sind beide Besetzungen für das außergewöhnliche Konzert vereint: 24 erste Violinen, 22 zweite Violinen, 14 Bratschen, 16 Celli und 8 Kontrabässe werden die Akustik des Kulturpalastsaals, der am oberen Ende der Dynamikskala bekanntlich verdammt schwierig zu kontrollieren ist, ausreizen. Und wen es nach dem Lesen dieses Textes partout nicht mehr zuhause hält: in der Städtischen Musikschule Chemnitz (Gerichtsstraße 1) erklingt morgen Abend (Freitag) in einem Konzert zur Eröffnung eines Meisterkurses mit Kolja Lessing der Zyklus »Das Geigen-Krämchen – sieben Stücke für Kinder für Violine und Klavier« (1981) op. 55 von Krzysztof Meyer, gespielt von Musikschülern und Meisterkursteilnehmern. Für Sonntag steht das Abschlusskonzert des Kurses auf dem Plan, und die Vorführung des Films »Ferne Klänge – Auf den Spuren verschollener Musik des 20. Jahrhunderts«. Geben wir doch solchen Projekten die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. John Williams dagegen, der ist doch was für Muggel.