Dresdens Musiktheater steht (wieder) fest in der Moderne. Intendant Peter Theiler hat seine letzte Saison an der Elbe mit einer weiteren Uraufführung geschmückt.
Aktueller kann Oper nicht sein: Wenn Musiktheater Zeitgeschehen auf die Bühne bringt und die Geschichte im Gegenwärtigen reflektiert, ist die Kunst am Puls des realen Seins. Die jetzt an der Semperoper uraufgeführte Oper »Die Jüdin von Toledo« von Detlev Glanert ist ihrer Zeit sogar ein wenig voraus gewesen. Denn der Fünfakter nach dem gleichnamigen Trauerspiel von Franz Grillparzer ist bereits 2022 fertiggestellt worden, der ursprünglich geplante Uraufführungstermin fiel der Pest namens Corona zum Opfer. Doch nun greift die allmählich überwunden gehoffte Pest der Kriege wieder so unverschämt um sich, dass nur mit größter Verwunderung festzustellen ist, welche Aktualität dieser Stoff aus dem frühen 13. Jahrhundert besitzt.
Um dies beim Opernbesuch nachvollziehen zu können, muss man weder Grillparzers Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenes Stück noch Lion Feuchtwangers Roman von 1955 kennen, erst recht nicht die aus dem 17. Jahrhundert stammende Adaption von Lope de Vega oder die erste Verfilmung dieses Stoffes aus den 1920er Jahren. Thematisiert wird darin die Beziehung von Alfonso VIII., dem König von Kastilien, mit der schönen Rahel, der titelgebenden Tochter eines jüdischen Kaufmanns in Toledo. In Glanerts etwa zweieinhalbstündiger Oper erschließen sich die Vorgänge und Beziehungen so abstrakt wie direkt aus seiner Musik sowie dem Libretto des Schriftstellers Hans-Ulrich Treichel.
Rahel, übermütig unbefangen, betritt gemeinsam mit ihrer Schwester Esther die königlichen Gärten, wo Alfonso und sein Hofstaat gerade den nächsten Krieg gegen die Mauren vorbereiten – der König ist solch schmutziger »Amtsgeschäfte« jedoch müde und verliebt sich augenblicklich in das schöne Mädchen. Wohl zum ersten Mal in seinem Leben empfindet er sich als freier Mensch. Seine Frau jedoch, mit der er einen kranken Sohn hat, ist eifersüchtig erbost, sieht ihre Macht in Gefahr, interveniert und intrigiert, ruft den Staatsrat ein und will den König entmachten.
Das klingt zunächst nach einem pur historischen Stoff, doch Detlev Glanert und Hans-Ulrich Treichel haben aus dieser Vorlage zeitloses Musiktheater geschaffen, das dem heutigen Publikum viel zu sagen hat. Wie lässt sich eine diffizile Privatsituation politisch instrumentalisieren? Wie kann Politik auch privat benutzt werden? Wo sind die Grenzen von Populismus, Machtgier, religiösen Konflikten und Kriegen? All diese Themen beschäftigen und bedrohen die Menschheit gerade wieder mehr denn je.
Glanerts Oper spiegelt diese fatale Aktualität freilich nicht vordergründig mit erhobenem Finger, sondern stellt zunächst die zeitlos schöne Liebesgeschichte ins Zentrum. Höchst bedeutsam entwickelt sich daraus die Vision eines Friedens, der von der zweisamen Liebe auf die von unterschiedlichen Glaubensformen geprägte Menschheit überspringt. Überspringen könnte und sollte! Wenn am vorderen Bühnenrand Rahel und Alfonso innig vereint sind und dahinter Vertreter der drei monotheistischen Religionen gemeinsam das Brot brechen und beten, könnte dieser Idylle beinahe geglaubt werden. Doch diese Oper spielt keine Utopie vor, sondern bleibt grausamer Realität verhaftet. Das Gift von Eifersucht, Hass, Machtgier und Neid ergibt ein mörderisches Gebräu – auf der Bühne wie im wirklichen Leben. Rahel wird getötet, König Alfonso bleibt auf dem Thron, seine Truppen werden in den Kampf ziehen, bis alles Leben ausgelöscht ist. Übrig bleibt nur der kranke Knabe, der zum Schluss und eine dunkle Zukunft blicken wird.
Diese Oper ist keine Utopie – Musiktheater grausamer Realität
Dramaturgisch ist »Die Jüdin von Toledo« perfekt arrangiert, komponiert und orchestriert. Detlev Glanert ist ein erfahrener Opernkomponist und weiß, wie Wirkung erzeugt wird. Hans-Ulrich Treichels spröden Text hat er mit einer stellenweise geradezu schroff wirkenden Musik versehen, viel Einsatz von Schlagwerk, lautstarken Bläser und überwältigend sattem Streicherklang wird da eingesetzt, fast orgiastisch modern, zugleich aber auch voller Melodik und Sanglichkeit. Die Sächsische Staatskapelle sowie der exzellente Staatsopernchor haben sich mit energischer Wucht für dieses Werk ins Zeug gelegt, der britische Dirigent Jonathan Darlington hat – auch und gerade in den vier fesselnd aufblühenden Zwischenspielen! – die Exzentrik der Musik großartig koordiniert.
Sie beginnt mit dem zarten Klang einer Ud, um arabisches Flair zu suggerieren. Das Bühnenbild im spanisch-arabisch angehauchten Ambiente führt in die Mezquita, die Moschee von Córdoba. Der kanadische Regisseur Robert Carsen hat das Geschehen gemeinsam mit seinem Ausstatter Luis F. Carvalho zeitlos aktuell gestaltet, raffiniert mit Historie verwoben und so eine bestechende Atmosphäre geschaffen. Der Hofstaat agiert in Anzug und Rollkragenpullover, der König mit Krawatte und weißem Hemd, seine Gemahlin in bodenlangem Schwarz. Nur Rahel erscheint in hell strahlendem Traditionsgewand geradezu unschuldsvoll mitsamt ihrem Gebetsschal, dem Tallit.
Ein einziges Fest ist die musikalische Umsetzung dieser durchweg gelungenen – und empfehlenswerten! – Uraufführung. Ob die mädchenhaft unbefangene Rahel Heidi Stobers, die große Stimmkraft besitzt und auch in Höhenlagen völlig schwerelos zu agieren vermag, ob die eher ernsthaft und ängstlich auftretende Esther von Lilly Jorstad, die eine ernome Spannbreite vom Sanften bis ins Schrille beherrscht, oder ob die herrschsüchtige Königin Eleonore, der Tanja Ariane Baumgartner ein bedrohlich dunkles Mezzo verleiht – all diesen Sängerinnen sind ihre Parts von Glanert in die Stimme gelegt worden. Der Komponist wusste bei diesem Auftragswerk der Semperoper schließlich vorab, für welche Solistenbesetzung er schreibt. Nichts anderes gilt für die Riege der Herren: Aaron Pegram verfügt als Don Garceran über einen schlanke, durchsetzungsfähigen Tenor, Bassbariton Markus Marquardt gibt als Graf von Lara den gravitätischen Vater, der vermeintliche Regeln und ein überkommenes Ordnungssystem durchsetzen will, sich aber auch vor blankem Opportunismus nicht scheut. Er war des Königs Lehrer, hat ihm treu gedient und wendet sich ob der verbotenen Liebe zur Jüdin sowie wegen der nachlassenden Kriegslust nun von ihm ab, wird zum Einpeitscher, wenn es am Hof um die Schlacht und die Staatsmacht geht. Christoph Pohl schließlich brilliert in seiner Rolle als König Alfonso, ihm gelingt stimmlich und darstellerisch die königliche Zerrissenheit darzustellen, sich der Liebe hinzugeben und dann wieder ganz ruchlos Herrscher zu sein.
Liebesgeschichte, Eifersucht, Machtpoker, Religionsstreit und kriegerische Politik gehen hier eine spannungsvolle Melange ein. Das Finale der Oper hält noch eine dramatische Steigerung bereit, denn hier werden Waffen wieder christlich gesegnet, mit Weihrauch bedacht, wird das Kreuz über die Mordinstrumente geschlagen, auf dass es in den nächsten Heiligen Krieg geht. Aber gibt es so etwas? Sind nicht alle Kriege absolut unheilig?
Die Antwort wird nicht gegeben, sie kann vom Publikum selber gefunden werden. Im Schlussbild blickt es auf schwarzweiße Filmeinspielungen, die aus den Nachrichten wieder mehr als bekannt sind; Katastrophenbilder, weniger von Völkern, sondern von einzelnen Despoten hervorgebracht. Panzer und Helikopter, Kriegsschiffe und Bombenflugzeuge sowie vollkommen ausgemerzte Stadtlandschaften sind da zu sehen; unmenschliche Gewalt und Zerstörung. Die Bühne aber ist voller Soldaten in mörderischen Monturen, mit jüdischen Gebetsschals, weißen Tüchern der Mauren und am Verzicht auf zusätzliches Accessoire erkennbaren Christenkämpfern. Sie schießen sich mit ihren eben noch »geheiligten« Maschinengewehren gegenseitig nieder, solche Kämpfe kennen keine Sieger, zerstören alle Zukunft. Carsens Mahnung ist bedrückend, geht die ganze Menschheit an.
Für die Semperoper und sämtliche Beteiligten stellt dieses Opernereignis eine Sternstunde dar.
Termine: 15., 18. und 26. Februar sowie 1. und 8. März 2024. Am 18. Februar bittet der Komponist nach der Vorstellung zu einem Gespräch. Karten für alle Termine (ab 10 EUR!) hier.