Die Dresdner Philharmonie beschreitet neue Wege der Publikumsfindung
Es ist schon ein bisschen zum Verrücktwerden: da reden die weißhaarigen alten Cis-Männer in den Konzertpausen überm Lachsbrötchen seit Jahrzehnten davon, dass das Klassikpublikum dringend verjüngt und verbreitert werden müsse – und im Prinzip passiert in dieser Richtung dann doch nicht viel mehr als Augenwischerei und ein paar Education-Projekte, Schulbesuche etc., die niemandem wirklich wehtun und allenfalls den festangestellten Orchestermusikern ein paar weitere Dienste bescheren, die dann (manchmal innerlich augenrollend?) absolviert werden. An den Konzertformaten an sich (Ouvertüre, Solokonzert, Lachsbrötchenpause, dann eine Sinfonie mit „großem B“) hat sich aber auch nach Königin Corona, die doch angeblich alle alten Rituale in Frage stellen half, nicht viel geändert. Diejenigen, die über Gelder, Spielpläne, die Einladungspolitik der großen Klangkörper etc. entscheiden, sind eben auch meist bereits in der zweiten Lebenshälfte und haben ausnahmslos eine musikdurchwebte Kindheit mit entsprechender „Kultivierung“ hinter sich. Sie können sich schwer vorstellen, dass es etwa in Dresden Menschen gibt, die die Städtischen Bibliotheken im Kulturpalast aufsuchen und schlicht nicht wissen, dass sich im selben Bauwerk auch ein Konzertsaal befindet. (Und das sind nur die Dresdnerinnen und Dresdner, die wissen, dass sich in diesem Bauwerk eine Bibliothek befindet!)
Die „philharmonische Familie“ (die Frauke Roth kürzlich in der Spielzeit-Pressekonferenz mehrfach beschwor) bewegt sich mit dem Abschied von Marek Janowski, der sich mit der Intendantin über dieses Thema angeblich uneins war, mit manche bestürzender Geschwindigkeit und jedenfalls großem Erfindungsreichtum in Richtung eines neuen, jüngeren und breiteren Publikums. Nächstes Jahr übernimmt Sir Donald Runnicles, ein knapp siebzigjähriger Schotte, Sohn eines Chorleiters und Organisten und kaum für die Aufführung bahnbrechender Repertoire-Neuheiten bekannt („Noch mehr als der Konzertspielplan wurde der Opernspielplan von Runnicles vom gängigen Repertoire bestimmt.“) das Chefdirigentenamt. Bis dahin aber schlägt Frauke Roth die Pflöcke ein: und ihr Pfad geht eindeutig in eine neue Richtung.
So gibt es bei der Philharmonie seit einem Jahr abgeFRACKte Konzerte, in denen Publikum und Orchester eine entspanntere Kleiderordnung an den Tag legen dürfen, die kürzer und programmatisch eingängiger sind als traditionelle Anrechtskonzerte, und bei denen eine Smartphone-App live Hinweise zur gehörten Musik gibt. Die Reihe hat einen Nerv getroffen – das zeigen ihre jüngsten Auslastungszahlen – und soll beibehalten werden. Darüber hinaus soll es (jetzt musst du stark sein, lieber Leser) ab der neuen Spielzeit „Best of Klassik“-Konzerte geben. Wer die dort gespielten Werke „inhaliert“ hat, hat sich „ein Geländer geschaffen“ (Frauke Roth) für die unübersichtliche Welt der klassischen Musik, und findet fürderhin vielleicht öfter einmal den Weg in den Konzertsaal. Welche Werke das sind? Das wären, würde man sich schonungslos dem Publikumsgeschmack von jungen Nicht-Klassikhörern preisgeben, vielleicht Ohrenreißer wie „Die vier Jahreszeiten“, „Die kleine Nachtmusik“, Moldau und Walkürenritt und zur Weihnachtszeit „Der Nussknacker“? Aber nein! Die Dresdner Philharmonie versammelt unter dem Lockvogel-Titel in Wirklichkeit anspruchsvolle, ja schwer zu hörende Werke, die aus meiner Sicht kaum als Einstiegsdroge taugen; etwa Strawinskys »Le Sacre du printemps«. Ich hoffe, dass „Best-of-Klassik“-Ersthörer durch solche Kaventsmänner des Repertoires nicht gleich wieder aus dem Saal spülen lassen.
Das neue Saisonprogramm der Philharmonie gibt sich also vernehmlich (und durch eine neue visuelle Kampagne rund um das Jahresthema „Näher dran“) erreichbar, inklusiv und niedrigschwellig. Indes gibt das künstlerische Team einen gewissen heimlichen Bildungsauftrag nicht auf. So dürfen sich denn auch gestandene Philharmonie-Fans, die etwa nie in ein Konzert mit einer Aufführung der „Rückkehr der Jediritter“ (24./25.1.2025) gehen würden und denen all die geschilderten Köder nicht schmecken müssen, da sie ja längst geangelt sind, auf Konzerthighlights freuen. Zum Beispiel auf den neuen Artist in Residence Augustin Hadelich, den einige der Alteingesessenen noch von seinem Dresdner Debütkonzert unter Yehudi Mehuhin vor mehr als einem Vierteljahrhundert kennen dürften, und der zumindest für mich ein weit herausragender, wenn nicht überhaupt der Geiger unserer Zeit ist. Auf den interessanten Composer in Residence Pascal Dusapin. Auf die Wiederkehr des Palastorganisten Olivier Latry. Auf einen konzertanten »Tristan« mit Janowski. Auf Barockexperten wie Hans-Christoph Rademann und Václav Luks.
Eine fixe Idee zuletzt, wie all diejenigen, die nächstes Jahr zum allerersten Mal den Weg in den Konzertsaal des Kulturpalastes wagen, vielleicht bei der Stange gehalten werden könnten: warum nicht jedem dritten „abgeFRACKt“-Hörer mit konspirativem Blick eine echte Konzertkarte für ein nicht so gut verkauftes Konzert der Folgewoche dazuschenken?