Dreimal Klaviermusik zu den Dresdner Musikfestspielen: »Horizonte« an den Tasten und beim Publikum!
Ohne Hélène Grimaud sind die Dresdner Musikfestspiele kaum mehr zu denken. Festspielintendant Jan Vogler liebt sie womöglich ebenso wie das hiesige Publikum. Folglich durfte die wunderbare Pianistin auch in diesem Jahr wieder aufspielen, das unter dem Motto »Horizonte« für Weitsicht und Ausblick steht.
Gemeinsam mit der formidablen Camerata Salzburg setzte die Französin das a-Moll-Konzert von Robert Schumann in den Mittelpunkt des gut besuchten Abends im Kulturpalast. Man kennt dieses Konzert, man mag es, und ist doch immer wieder berauscht von der Klangwucht, der Formensprache, dem Wechsel- und Zusammenspiel von Soloinstrument und Orchester. Frei von jedweder Ambition, dem Salzburger Klangkörper Vorgaben zu machen, es mitzureißen oder gar einzubremsen, gestaltete Hélène Grimaud ihren Part im komplexen Zusammenspiel eines gemeinsamen Atems. Freilich ist dieses vertraute Miteinander auch ein lebendiges Exempel für jahrelange Zusammenarbeit, die unüberhörbares Vertrauen und Verständnis geschaffen hat.
Noch einige Portiönchen berührender gerieten die beiden der Solistin abverlangten Zugaben, da sie hier ganz eintauchen konnte in ihr verinnerlichtes Spiel. Sowohl eine Rachmaninow-Etüde als auch die Bagatelle Nr. 3 von Valentin Silvestrov formte sich in Hélène Grimauds Vortrag brillant.
Überrascht hat das Finale dieses mit Ludwig van Beethovens »Coriolan«-Ouvertüre feierlich eingeleiteten Konzertes, denn die Camerata Salzburg zelebrierte die 1. (Jugend-)Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy in einem dermaßen feurigen Tempo, das melodiöse Substanz und Tiefe stellenweise verloren zu gehen schien. Ein solch unromantischer Hitzkopf ist Mendelssohn doch auch in jungen Jahren nicht gewesen. Wie gut, dass zum Abschied und als Dankeschön noch ein langsamer Satz nachgereicht wurde.
Trashige Chinoiserie à la France
Dresdens Musikfestspiele (DMF) sind aber auch ohne das Mitwirken der einheimischen Veranstalter nicht denkbar. Kreuzchor, Philharmonie und Staatskapelle zählen zu den festen Partnern der Festspiele und lassen sich so gern wie passend in deren Programmatik mit einbinden. Von den Aufführungen des 10. Symphoniekonzertes kam die dritte und letzte in den DMF-Kalender und bescherte dem Publikum an Stelle des Chefdirigenten (Christian Thielemann ließ seine Konzerte unmittelbar nach der Bekanntgabe seiner künftigen Pläne mit der Staatskapelle Berlin krankheitshalber absagen) die Begegnung mit der wunderbaren Mirga Gražinytė-Tyla. Elfenhaft becircend führte sie das Orchester durch französische Klangwelten, wirkte immer wieder wie staunend über das gemeinsam Geschaffene, strahlte freudvoll ein innerliches Ergriffensein aus – und dirigierte umso überzeugender mit größter Eleganz. Die Orchestersuite »Ma mère l’Oye« (dt. »Meine Mutter, die Gans«) strahlte kindliche Naivität aus, witzig gewürzten Wohlklang sowie einen geradezu familiären Zusammenhalt. Der fand sich auch in Claude Debussys »La mer« sowie in der 2. Suite aus Ravels Ballettmusik »Daphnis et Chloé«. Zwei Werke, die dank Orchester und Dirigentin mit dem Solovortrag des Abends versöhnten.
Der für seine technische Meisterschaft bei einem breiten Publikum beliebte und für seinen performativen Trash zumeist belächelte Pianist Lang Lang stellte sich in Ravels G-Dur-Klavierkonzert einmal mehr vor allem selber dar. Er überzeugte erwartungsgemäß mit rasanter Perfektion, übertünchte dies freilich – gewohntermaßen – mit selbstverliebten Mätzchen, die Ravels Impressionismus mitunter konterkarierten. Mitunter wird der Chinese ja eher als Handelsreisender in Sachen seiner Fingerfertigkeit angesehen, dem die Inhalte dessen, was er verkauft, völlig gleichgültig oder schlimmstenfalls sogar unbekannt sind – das Dresdner Publikum feierte ihn dennoch mit stehenden Ovationen und wurde dafür mit einem zuckersüßen Nachschlag beschert, mit dem gut und gern auch längere Fahrstuhlreisen zu überstehen wären.
Horizonterweiterung fängt vor der eignen Haustür an
Heftig hämmert Hindemiths Suite »1922« drauflos. Igor Levit, von jeher ein Pianist, der seine Literatur nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich durchdrungen hat, eröffnete sein bestens besuchtes Rezital im Kulturpalast mit jenem Werk, das ihm 2005 beim Arthur-Rubinstein-Klavierwettbewerb gleich mehrere Auszeichnungen eingebracht hat. Dieses Opus 26 von Paul Hindemith steckt voller Raffinesse, ist vertrackt und verdient eine eingehende Hinwendung, ja ein Eintauchen in die rigiden Passagen ebenso wie in die filigranen Phasen, nicht zuletzt auch in die fetzig frechen. Doch dazu war offenbar nur ein kleiner Teil des Publikums bereit, das womöglich allein wegen des bekannten Künstlernamens zu Igor Levits Debüt bei den Dresdner Musikfestspielen strömte. Da wurde gehustet und geräuspert, was das Zeug hielt; der Solist nahm derlei Unverschämtheit mit Humor, unterbrach seinen Vortrag, setzte neu an und wurde wiederum von respektloser Unaufmerksamkeit begleitet. Obligates Telefonbimmeln inklusive.
Nicht viel anders im für Klavier bearbeiteten Adagio aus Gustav Mahlers 10. Sinfonie, das der Solist mit geradezu psychologischem Gespür ausdeutete, in einer fast orchestralen Farbskala erklingen ließ, allen Störgeräuschen zum Trotz. Die Frage steht dennoch, ob ein ausverkauftes Konzert denn auch den Ausverkauf von kulturellen Werten bedeuten muss? Horizonterweiterung fängt vor der eignen Haustür an (und Publikumsbeschimpfung immer im Publikum), aber Konzertbesuch ist eben doch etwas anderes als die permanente Ablenkung durch digitale Medien.
Die Risiken der Publikumsmit- und -nebenwirkung sind allerdings auch einigen der unfreiwilligen Akteure aufgefallen. Als nach der Konzertpause Beethovens 3. Sinfonie in der Klavierbearbeitung von Franz Liszt erklang, wurde im Rang des Konzertsaals brav bis zum getragenen Trauermarsch gewartet, um dann ganz vorsichtig und gaanz langsam und gaaanz knisternd ein Bonbonpapier zu entwickeln, was im kraftvollen dritten Satz sicherlich niemand gehört hätte. Der Husten ging weiter, ergoss sich schließlich in einem Orkan aus Applaus und lautstarkem Jubel. Igor Levit absolvierte bis dahin eine pianistische Meisterleistung in der zweihändigen Ausdeutung eines sinfonischen Großmeisters.