Bachs »h-Moll – Messe«, vom Verleger des Erstdrucks 1818 als „größtes musikalisches Kunstwerk aller Zeiten“ bezeichnet, kann ein unvergessliches und in jeder Hinsicht beeindruckendes Konzerterlebnis sein. Bei der Interpretation des »Collegium Vocale Gent« unter Philippe Herreweghe im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele blieb da noch Luft nach oben.
Es gibt wenige Orte, an denen ein so hochkomplexes, vielschichtiges und facettenreiches Stück wie die h-Moll–Messe optimal zum Klingen gebracht werden kann. Freilich kann eine Kirche selten eine ausbalancierte Konzertsaalakustik erreichen; dennoch ist es schade, wenn dieser Aspekt ein Hörerlebnis im konzertanten Bereich trübt. Im Falle des Bach-Abends mit Herreweghe und dem »Collegium Vocale Gent« wurden die Makel des Raumklangs leider nur an manchen Stellen durch vielfarbige Arbeit zwischen den einzelnen Stimmen kompensiert, wobei die doppelchörige Aufstellung ab dem »Sanctus« den akustischen Eindruck um einige Stufen verbessern konnte.
Dieser Faktor beiseite gelassen, durfte man das Konzert in manchen Momenten als Berieselung erleben, in anderen dann doch noch als zutiefst glaubensechter Ausdruck des Inneren und Himmlischen im Verbund. Kaum eine andere Messkomposition ist so durchdacht und trotzdem natürlich menschlicher Ausdruck, etwa im »Kyrie eleison« als flehentlich umwobene Bitte um Erbarmen. Ursprünglich als Missa mit den Liturgieabschnitten »Kyrie« und »Gloria« an den Sohn des verstorbenen sächsischen Kurfürsten übergeben, erfolgte die Komplettierung des Werkes erst zu einem späteren Zeitpunkt. Man kann auch nach detaillierten musikhistorischen Nachforschungen davon ausgehen, dass dieser Teil der Messe zu Bachs Lebzeiten in Dresden nie aufgeführt wurde. Umso schöner, dass es heutzutage viele Interpretationen gibt, von denen häufig welche auf dem Programm der Konzerthäuser und -institutionen stehen.
Die lupenrein und klangschön interpretierende kleine Besetzung des Vokalensembles brauche anfangs ein wenig Zeit zum Warmwerden mit Raum und Orchester. Später – ab dem »Credo« – schien es endlich auch Freude am Musizieren zu haben. Das Orchester, dessen feine Musizierkultur an dieser Stelle hervorgehoben sei, präsentierte sich vor allem mit stetiger Kommunikation unter den Musikern als harmonierender Klangkörper. Die Bläserriege leistete prächtige Detailarbeit, wobei hier vor allem die unaufdringliche und butterweiche Oboe (Jasu Moisio) und Patrick Beuckels farb- und artikulationsreiche Traversflöte herausstachen. Beim zurückhaltenden Dirigat Herreweghes wünschte ich mir beinahe durchgehend weniger Nüchternheit, mehr Spritzigkeit, Differenziertheit, Freude an Motivik und eine (insbesondere für die Frauenkirche als Konzertraum) präzisere Behandlung einiger Themen, die so leider oft untergingen.
Die Solistenbesetzung enthielt gleich mehrere große Namen, von denen Alex Potter zweifelsohne für die berührendsten Momente sorgte. Gerade im »Agnus Dei« vereinte der Countertenor sein glasklares Timbre mit purer Hingabe zur Musik und ließ so eigentlich keine Fragen offen, ob sich das besungene Lamm Gottes auch der Menschen erbarmt. Dorothee Mields (Sopran I) schien zu Beginn stimmlich noch ein wenig unfokussiert, blühte aber im Laufe des Werkes auf und vermochte dann doch noch in ihrem Schokoladenregister zu betören. Hana Blažíková (Sopran II) wirkt solistisch als auch im Duett leider zu sehr körper- und farblos, wohingegen Guy Cutting seinen samtigen Tenor sowohl im Zusammensingen als auch alleine mit der richtigen Mischung an Obertönen in sämtlichen Dynamiken bis in die Kuppel der Frauenkirche schicken konnte. Johannes Kammler mit potentem, aber sicher geführtem Bass singt sich koloraturgewandt und farbig-differenziert auch durch unangenehm exponierte Lagen. Ein Abend, über den man länger nachdenken muss, der aber in vielerlei Hinsicht seinen Urzweck – nämlich das Festspiel-Publikum mit schöner Musik zu beseelen – erfüllt hat.