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»Wir haben schließlich alle mal groß angefangen!«

Freischütz-Probe, 13. November 1984. Foto: Erwin Döring

Er ist unvergessen und hat schon längst das Zeug zur Legende. Anekdoten gibt es jede Menge über den großen Regisseur Joachim Herz. Am 15. Juni wäre er 100 Jahre geworden.

Verachtet diesen Meister nicht: »Die Meistersinger von Nürnberg« haben im Leben von Regisseur Joachim Herz wiederholt eine besondere Rolle gespielt. Mit seiner Inszenierung dieser Oper von Richard Wagner ist am 9. Oktober 1960 der erste (und letzte, weil einzige) Theaterneubau der DDR, das Neue Opernhaus Leipzig, eingeweiht worden. Dort wurde Herz mit 35 Jahren der bis dahin jüngste Operndirektor im gesamten, damals geteilten Deutschland. Nach der Wiedervereinigung ist eine Neuinszenierung der »Meistersinger« zum 50. Geburtstag des Leipziger Hauses am 9. Oktober 2010 sein letzter Opernbesuch gewesen. Joachim Herz ist neun Tage später im Alter von 86 Jahren verstorben.

»Verachtet mir die Meister nicht«

Geboren wurde der Theatermann am 15. Juni 1924 in Dresden. Die beiden sächsischen Musikmetropolen sind stets ganz besonders prägend für das persönliche und künstlerische Leben des in weiten Teilen der Welt tätigen Künstlers gewesen. An der Semperoper gab es 1937 für den 13-Jährigen die wohl  entscheidende Begegnung mit der Opernwelt, als er in eine Vorstellung des »Freischütz« von Carl Maria von Webers mitgenommen wurde. Danach stand für ihn fest, genau diese Welt ist künftig seine Welt. Allerdings galt es erst einmal, die kriegerisch und seelisch zerstörerische Welt des deutschen Nationalsozialismus zu überstehen.

Bei einem Fronturlaub überstand der zur Wehrmacht gezogene Feingeist im Februar 1945 die Zerstörung seiner Geburtsstadt. Noch viele Jahrzehnte später erinnerte sich Joachim Herz an seine Gedanken beim Anblick des zerbombten Opernhauses. Dass er die wiederaufgebaute Semperoper 1985 mit seiner Inszenierung von ebenfalls Webers »Freischütz« mit einweihen würde, wird er sich damals nicht vorgestellt haben können.

Doch erst einmal setzte der einstige Kreuzschüler nach Kriegsende seine Klavier- und Klarinettenausbildung fort, studierte Höheres Lehramt, Kapellmeister sowie Opernregie und debütierte 1950 mit Richard Mohaupts »Bremer Stadtmusikanten« als Regisseur. Dies ist quasi der Auftakt zu einer vielbeachteten Karriere mit sage und schreibe 126 Operninszenierungen gewesen, die Herz in den folgenden Jahren zwischen Dresden und Leipzig, aber auch in Berlin, Buenos Aires, Moskau und Vancouver absolviert hat. Noch heute gilt er als einer der Meister des „realistischen Musiktheaters“, wobei ihm diese Formulierung so gar nicht gefiel. Zur Legende geworden ist Joachim Herz insbesondere durch seine Leipziger Inszenierung von Wagners Tetralogie »Der Ring des Nibelungen«, sozusagen eine logische Fortsetzung seiner »Meistersinger« in Leipzig – und: eine kaum zu übersehende Inspiration für die wenig später als „Jahrhundert-Ring“ gepriesenen Umsetzung durch Patrice Chéreau.

Groß angefangen – Begegnung mit Walter Felsenstein

Rückblickend empfand er bis zuletzt berechtigten Stolz auf diese Produktionen, konnte aber auch nicht jene Wagnerianer vergessen, „die darauf bestanden, dass alles so gemacht werden muss, wie es der Meister vorgeschrieben hat. Mit denen hatten wir natürlich Krach als Dauerzustand.“ Krach bis hin zum Theaterdonner zog sich gewissermaßen durch die gesamte Bühnenlaufbahn von Joachim Herz. Er ist gewiss ein streitbarer Zeitgenosse gewesen. Aber einer mit großem Anspruch: „Es gibt einen sehr schönen Satz von Ruth Berghaus: „Wir haben schließlich alle mal groß angefangen.“ Das heißt, als wir starteten, wir haben das Theater erfunden.“

Dieser Satz verrät viel über das Wissen, aus welcher Schule der spätere Meister als Regisseur kam: „Die Begegnung mit Walter Felsenstein war für mich wichtig. Das ist meine zweite Lehrzeit gewesen. Wir haben wir alle gespürt, wie sehr uns das geprägt hat.“

Von 1951 bis 1953 wirkte Herz als Regisseur der damaligen Landesoper in Radebeul und dozierte bereits an Dresdens Musikhochschule. Seine womöglich prägendste Station dürfte die Komische Oper Berlin gewesen sein, wo Herz von 1953 drei Jahre lang als Regisseur tätig war und Felsensteins Sicht auf realistisches Musiktheater inhaliert hat. Sein Credo: „Das Stück selber begegnet keinem. Sondern die Lesart begegnet jedem. Und die ist anders bei jedem. Deswegen wird’s auch vielfältig. Aber es muss eine Lesart des Stückes sein und nicht etwas gegen das Stück. Und das ist heute üblich geworden.“

Theaterdonner als Dauerzustand

Ja freilich, Joachim Herz ist in seinen letzten Lebensjahren durchaus ein wenig nostalgisch geworden. Aber hatte er nicht Recht, wenn er seinen Leipziger »Ring« bis zuletzt als Meilenstein ansah, als gültige Kapitalismuskritik und gründliche Analyse von Wagners Text und Musik? Zu schade nur, dass kein ost- oder westdeutsches Fernsehen es damals für nötig erachtete, das Original aufzuzeichnen. Was für ein Schatz wäre das heute!

Er selbst war, wo möglich, ein Bewahrer. Das Requisit des Nibelungen-Rings etwa, eigens für ihn gerettet, als die Ausstattung dieser legendären Produktion verschrottet wurde, hütete er bis zuletzt. Und die Erinnerungen an so manchen lautstark und / oder schriftlich ausgetragenen Zoff auf und hinter der Bühne sowieso. Mit dem Leipziger Generalintendanten Karl Kayser muss er zu DDR-Zeiten so manchen Strauß ausgefochten haben: „Nach der Wende war Karl Kayser noch letztmalig in der Akademie in Berlin, war schon krank, und traf mich da: „Ach Herz, ich habe unseren ganzen Briefwechsel nochmal durchgelesen. Haben wir uns gekracht, waren das schöne Zeiten!““

Was hat Joachim Herz nicht alles dokumentiert! Dass die ostdeutschen Opernhäuser Anziehungspunkte auch für Gäste aus dem Westen gewesen sind, sieben Tage die Woche gespielt haben und über mangelnden Besuch kaum zu klagen hatten. Dass Herz-Produktionen oft europaweit auf Gastspielen unterwegs gewesen sind, Händels »Xerxes« etwa, auf Deutsch inszeniert, war selbst in Italien ein großer Erfolg.

„Wir fanden immer, das muss der Nachwelt erhalten bleiben“, blickte Joachim Herz, der viele Jahre in Leipzig und Dresden gelebt hat, zurück. Das Elbe-Hochwasser 2002 flutete fast sein gesamtes Archiv. „Unwiederbringlich sind ja die Fotos. Alle sind weg. Das ist ganz schmerzlich, denn das ist ja die Dokumentation, dass wir mal lebendiges Theater gespielt haben.“ All dies sind seine Schätze gewesen. In seinen letzten Lebensjahren musste er die Dresdner Bleibe aufgeben und seine umfangreiche Bibliothek in Leipzig zusammenlegen. Sogar Herz’ Schlafzimmer soll mit Bücherregalen vollgestellt gewesen sein. Vieles an Literatur hätte er sicherlich gern noch gelesen: „Ich träume davon. Ich möchte nicht ganz so dumm sterben.“

Gestorben ist Joachim Herz am 18. Oktober 2010 in Leipzig, wo er auf dem Südfriedhof beigesetzt wurde. Die letzte Musik, die er gehört hat, stammt von Johann Sebastian Bach. Dessen Orchestersuite Nr. 4 hat ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Ein Abschied in D-Dur.

Erinnerungen an Joachim Herz – eine Herzensangelegenheit

Anlässlich des 100. Todestages von Joachim Herz hat die Oper Leipzig eine kleine Ausstellung im Foyer des Hauses gestaltet, deren beziehungsreicher Titel natürlich ein Herz-Zitat aufgreift: »Die sinnvollsten Jahre meines Lebens – Joachim Herz und die Oper Leipzig«. An der Semperoper wird diesem „Anwalt des Werkes“, wie er sich stets auch dem Publikum gegenüber empfand, am 15. Juni ein Abend in der Veranstaltungsreihe »Aktenzeichen« gewidmet, um das Dresdner Vermächtnis von Joachim Herz anhand von ausgewählten Dokumenten aus dem Historischen Archiv der Sächsischen Staatstheater wieder in Erinnerung in bringen. Eine Herzensangelegenheit für die Veranstalter.