Die aktuelle Jubiläumssaison war für die Staatskapelle ein Abnabelungsjahr. Nach einer langen, künstlerisch beglückenden Zeit muss ab Herbst Vieles gleichzeitig auf den Prüfstand.
Alle drei Symphoniekonzerte unter dem scheidenden Chefdirigenten Christian Thielemann sind schon seit langem ausverkauft. Die Dresdner bieten für »Mahler 8« noch einmal eine atemberaubende Sängerriege auf (Camilla Nylund, Ricarda Merbeth, Regula Mühlemann, Christa Mayer, Michael Volle, Georg Zeppenfeld). Rauschenden Jubel wird es sicherlich zum Abschied geben. „Der Chef“ wird den Konzertmeister umarmen, noch x-mal herausgerufen werden und am Ende einen seiner berühmten Hopser aufs Podest tun, sich am altgoldenen Geländer festhalten und dabei ausgelassen und ein bisschen herausfordernd ins Publikum blicken, das ihn umso stürmischer feiern wird. Hernach trifft sich das musikalische Dresden wenn nicht bei einem Jahrgangs-Champagner, so doch vielleicht bei einem Rotkäppchensekt. Der Ministerpräsident und die Kunstministerin haben sich zum Abschied angekündigt. Adieu und danke, Christian Thielemann!
Natürlich gilt es dieser Tage, gemeinsam zurückzublicken, zur Jubiläumssaison auch noch einmal an die Anfänge der langen Orchestergeschichte zu erinnern. Die Gründung 1548 durch Kurfürst Moritz von Sachsen, erste Höhenflüge mit Heinrich Schütz. Die wunderbaren Jahre mit Pisendel, Heinichen, Zelenka sausen in der Rückschau vorbei. Im 19. Jahrhundert setzt die Königliche Kapelle neue Glanzpunkte, ihr Kapellmeister wird ein gewisser Richard Wagner; Lohengrin, Maiaufstand, polizeilicher Steckbrief: „Wagner ist 37-38 Jahre alt, mittler (sic) Statur, hat braunes Haar und trägt eine Brille“, schmunzelschmunzel. Wir scrollen weiter, Tonkünstler-Verein, Kammermusik. Erste Abonnementkonzerte 1858; schon bald werden die ‚Billets‘, die Eintrittskarten für einzelne Konzertserien, „Erbschaftsstücke, die nicht leicht einer aufgiebt“ (Dresdner Anzeiger, 1882). Richard Strauss und seine Dresdner Opernuraufführungen rücken ins Bild, die Dirigenten Ernst von Schuch, Fritz Busch, Karl Böhm, karge DDR-Jahre, Herbert Blomstedt, schließlich der unvergessene Giuseppe Sinopoli. Bei Daniele Gatti, dem kommenden Chefdirigenten, bleibt der Cursor stehen. Und blinkt.
Das 450. Jubiläum war, wie sich viele erinnern werden, eine einzige ungetrübte Jubelfeier. Die Saison 1998/99 erlebte die Staatskapelle wie im Rausch. Vielleicht begann die Nachwende-Euphorie andernorts langsam abzuklingen, aber in der Semperoper war davon nichts zu spüren. Im Gegenteil: hier wurde ein neues Zeitalter eingeläutet. An der Seite des langjährigen, umsichtig planenden Konzertdramaturgen Eberhard Steindorf hatte mit Jan Nast ein quecksilbriger Orchesterdirektor sein Amt angetreten und plante Großes für die Zukunft. Der vielseitig interessierte Chefdirigent Giuseppe Sinopoli schloss dem Orchester und seinem Publikum faszinierende neue Werke auf und pflegte daneben – nicht immer unfallfrei – die Klassiker, ohne je in Heldenverehrung zu versinken. Von der Stadt Dresden und ihrer Musiktradition war er seltsam angerührt. Er, der intellektuelle Weltbürger, wollte etwa die Frauenkirche als Stätte der Kunst und Versöhnung etablieren helfen. Eins der Gedenkkonzerte zum 13. Februar widmete er dem Wiederaufbau der Kirche, die August der Starke einst nach dem Vorbild der Santa Maria della Salute in Venedig in Auftrag gegeben hatte – der Kirche, in der Sinopoli geheiratet hatte.
Die kommenden fünfundzwanzig Jahre hätten also ein erfüllendes gemeinsames Ringen um die Kunst werden können, ein Voneinanderlernen und ein Teilen mit uns, dem Publikum – aber leider kam es anders. Die Stimmung am Haus verschärfte sich schon wenige Monate später, als der damalige Opernintendant Christoph Albrecht den Dirigenten Semyon Bychkov als neuen Chefdirigenten der Sächsischen Staatsoper vorstellte. Als Sinopoli ein Jahr später bekanntgab, seinem (!) Orchester und überhaupt dem Haus ab 2003 als Generalmusikdirektor vorstehen zu wollen, knackte und knarzte es schon bedenklich am Haus. Bychkov verließ Dresden noch vor Ablauf seines Vertrags.
Mit dem jähen Tod Sinopolis verfiel das Orchester 2001 in eine künstlerische Schockstarre. Als sich die Orchesterversammlung 2004 für Fabio Luisi als neuen Chefdirigenten entschied – übrigens gegen die Konkurrenten Christian Thielemann und Daniele Gatti –, da passte das dem amtierenden Bernard Haitink nicht. Auch Haitink verließ Dresden nach kurzem, öffentlich geführten Streit vorzeitig.
Was sich die Staatskapelle von Luisi erwartete, ist nicht mehr ganz leicht auszumachen. Schien der disziplinierte Pultarbeiter den Musikern als verlässlichste Option für die Mühen der kommenden Ebenen? Festzuhalten bleibt, dass sich das Verhältnis schnell abkühlte. Schon zwei Jahre nach seinem Amtsantritt kündigte Luisi an, seinen Vertrag nicht verlängern zu wollen, und als das sächsische Kunstministerium daraufhin wie aus der Pistole geschossen Christian Thielemann als Nachfolger präsentierte, verließ Luisi, der gerade noch mit riesigen Fotobannern rund um den Theaterplatz willkommengeheißen worden war, die Stadt fluchtartig.
Die folgenden sechs, sieben Jahre dürfen in dieser zugegebenermaßen persönlich gefärbten Rückschau als unvergleichliche, absolut glückliche Jahre stehenbleiben. Was haben das Orchester und sein Dirigent Christian Thielemann zuhause in Dresden, aber eben auch international in dieser Zeit künstlerisch gemeinsam erreicht! Mitschnitte künden von dem ungetrübten Miteinander im Geiste. Sicher, Christian Thielemann galt und gilt abseits des Podiums als schwieriger Charakter. Aber damit kokettiert er inzwischen, es ist quasi seine Marke geworden in dieser neuen woken Welt. Alle seine bisherigen Dienstherren haben darüber hinweggesehen und potentielle Störfaktoren – lies etwa: Serge Dorny, der designierte Semperopernintendant, dem noch vor Amtsantritt wieder gekündigt wurde – möglichst aus dem Weg geräumt. Was zählte, war im Konzert, und da kamen und kommen diesem Dirigenten bis heute wenige gleich.
Unter Thielemanns Dirigat fühlte sich die Staatskapelle zu Recht auf einem Allzeithoch, und zwar sowohl im Konzert- wie im Opernbereich. Mit Thielemann erschloss sich das Orchester neue Tournee-Destinationen, machte alljährlich zur österlichen Residenz in Salzburg die internationale Hautevolee glücklich und sorgte zuhause verlässlich für ein ausverkauftes Haus: „Thielemann, Thielemann, Thieeeelemaaaann!“, riefen die japanischen Touristen überwältigt nach gelungenen Vorstellungen und beglückwünschten uns Dresdner zu dieser einmaligen Hausband. Nicht nur nebenbei wuchsen Projekte wie südländische Picknick-Konzerte auf der Wiese vorm Volkswagen-Werk, wuchs seit 2010 unter dem Konzertdramaturgen Tobias Niederschlag ein neues, Dmitri Schostakowitsch gewidmetes Festival in Gohrisch, erblickte das Konzertformat »Ohne Frack auf Tour« das Dämmerlicht der Dresdner Neustadt, wurde der Görlitzer »Meetingpoint Memory Messiaen« unterstützt, mit kapelle 21 eine faszinierende Werkstattreihe etabliert und das Engagement beim Nachwuchs (»Kapelle für Kids«) und beim Orchesternachwuchs (seit 2011 als Giuseppe-Sinopoli-Akademie) intensiviert.
Vor drei Jahren, am 10. Mai 2021, nachdem die Staatskapelle schon über ein Jahr lang durch ein gewisses Virus wieder und wieder am Musizieren gehindert worden war, platzte dann die Bombe. Per Pressemeldung kündigte die Kulturministerin Barbara Klepsch mit dürren Worten an, dass Thielemanns laufender Vertrag als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden nicht verlängert werde. Obzwar der Orchestervorstand beteuerte, die Entscheidung der Ministerin habe die Orchestermitglieder unerwartet getroffen, mochten viele nicht glauben, dass das Ministerium eine so wichtige Personalie ohne Rücksicht auf die Interessenlage des Orchesters getroffen hätte. Was war passiert? Immer nur hohe Drehzahlen, Vollgas, Ölwarnlampe kaputt, ergo ein Kolbenfresser? Jeder mache sich seine Gedanken.
Nun erzwingt der Abschied Thielemanns einen grundlegenden und sicher nicht schmerzfreien Neuanfang in fast allen Bereichen. In den letzten Monaten sind wichtige Vakanzen im Orchester mit aufregenden Nachwuchskräften neubesetzt worden; weitere werden folgen. Neben der neuen Opernintendantin Nora Schmid, unter der die lange eigenständig und nicht immer deckungsgleich agierenden Kommunikationsabteilungen von Oper und Orchester wieder verschmelzen sollen, wird mit Annekatrin Fojuth eine neue, konflikterfahrene Orchesterdirektorin ihren Dienst antreten. Es ist somit nicht übertrieben, ab diesem Herbst von einer neuen Ära zu sprechen. Keine Post-Thielemann-Ära, in der alle nur mit feuchten Augen der einstigen Größe hinterhertrauern. Sondern eine Ära, in der das jahrhundertealte Ensemble sich zu einem Orchester des Wandels entwickeln muss, wenn es seine gesellschaftliche Relevanz erhalten will. Dazu zählt, auf ein breiteres Publikum zuzugehen und mit neuen Angeboten auf ein radikal verändertes Medienkonsumverhalten zu reagieren; vielleicht auch grundlegend das eigene Mobilitätsverhalten zu analysieren (Stichwort desaströser CO2-Fußabdruck interkontinentaler Kurztourneen). Und eine weitere jahrzehntealte Praxis muss sicherlich kritisch befragt werden, dass nämlich viele Intendanten immer neue, hochsubventionierte und mit internationalen Stars aufgepeppte Inszenierungen auf ihre Spielpläne setzen und auch für die Konzertpläne nur noch eins zu gelten scheint: umso bekannter und teurer der Gastsolist, desto besser fürs eigene Renommee. Vor allem aber ist in diesem neuen Orchesteralltag wichtig, die Erwartungen von Musikerinnen und Musikern an ein von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Arbeitsklima zu erfüllen. Ohne jeglichen Promibonus, auch und gerade in einem Spitzenorchester.
12. Symphoniekonzert
Sonntag, 7. Juli 2024, 19 Uhr
Montag, 8. Juli 2024, 19 Uhr
Dienstag, 9. Juli 2024, 19 Uhr
Gustav Mahler – Symphonie Nr. 8
Christian Thielemann Dirigent
Camilla Nylund Sopran I (Magna Peccatrix), Ricarda Merbeth Sopran II (Una Poenitentium), Regula Mühlemann Sopran III (Mater Gloriosa), Štěpánka Pučálková Alt I (Mulier Samaritana), Christa Mayer Alt II (Maria Aegyptiaca), David Butt Philip Tenor (Doctor Marianus), Michael Volle Bariton (Pater Ecstaticus), Georg Zeppenfeld Bass (Pater Profundus)
Chor des Bayerischen Rundfunks,
Sächsischer Staatsopernchor Dresden (André Kellinghaus Einstudierung),
Kinderchor der Semperoper Dresden,
Gustav Mahler Jugendorchester,
Sächsische Staatskapelle Dresden
Eine Textfassung des Artikels ist in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen.