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Doppeltschüs

Foto: Matthias Creutziger

“Sag beim Abschied leise Servus”? Nicht so dieser Tage an der Semperoper Dresden. Da geht es beim Farewell von Chefdirigent und Intendant recht laut zu, zumindest musikalisch. Mit Berlioz Opera comique »Benvenuto Cellini« schenkt Peter Theiler sich und dem Publikum nach sechsjähriger Amtsführung ein erklärtes Lieblingsstück zum Abschied – wohingegen Christian Thielemann sich für Mahlers Achte entschied, die wegen ihrer großen Chor- und Orchesterbesetzung oft als Sinfonie der Tausend betitelt wird.

In Dresden sind es diesmal wohl an die vierhundert Mitwirkende. Überraschend ist an Thielemanns Wahl, dass er die Werke Gustav Mahlers bekanntermaßen mit einer gewissen Skepsis betrachtet. „Mahler spricht zu mir, aber es gibt eine ganze Menge Leute, die damit so gut sind, dass ich denke: Lass dir damit noch Zeit“, diktierte der damals frisch ernannte Chefdirigent dem »Musik-in-Dresden«-Kollegen in den Block. Einen Mahlerzyklus ließ Thielemann folglich lieber seinen „Antipoden“ dirigieren. Und noch im versöhnlich rückblickenden Interview mit dem mdr zu seiner Dresdner Zeit führte er kürzlich aus, er und die Kapelle hätten sich an Mahler langsam herangearbeitet. Wahrlich haben Thielemann und die Kapelle in der letzten Dekade sich gegenseitig in der Engführung ihres Kernrepertoires auf Strauss und Wagner eher bestärkt: im deutschen spätromantischen Repertoire lagen denn auch die Sternstunden ihrer Zusammenarbeit.

Bereits als scheidender Chef der Münchner Philharmoniker setzte Thielemann die Sinfonie, zum Zentenarium der Uraufführung, 2010 aufs Programm. Als faszinierenden “Dinosaurier” bezeichnete er damals das Werk. Und fast anderthalb Dekaden später hört man in Dresden immer noch eher Skepsis gegenüber diesem vermeintlichen Fossil. Positiv formuliert exerziert Thielemann eine distanzierte Autopsie bei zugleich entschiedener Verweigerung eines jeden Anflugs von Sentimentalität.

Da klingt der Eröffnungssatz des Veni creator spiritus in seiner massiven rhythmischen Präzision eher nach Bruckner, im auf Klarheit bedachten Kontrapunkt eher nach Bach in altdeutscher Orchestertradition. Und auch in der Faust-Szene des finalen zweiten Satzes steht das mitzählende Herausheben der Taktschweren selbst an Stellen im Vordergrund, die sich gewöhnlich als musikalisch flirrendes Fin de Siecle ans Nichts herantasten. Thielemann gelingen durchaus beeindruckende Momente, etwa wenn das Vorspiel des zweiten Satzes an Richard Strauss’ Vorhaltharmonik der »Frau ohne Schatten« denken lässt. Oder wenn der 200-stimmige Chor jenseitig-theatral die Gänsehaut herüberflüstert mit “Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis”.

Anton Rositskiy als Benvenuto Cellini. Alle Inszenierungsfotos: Ludwig Olah

Im Ganzen stellt sich Thielemann aber mit seiner Ästhetik der rhythmischen Kälte (bewusst?) gegen den Strang der modernen Mahler-Interpretation, der von Bernstein ausgehend das Spielerisch-Ironische, das Sentimental-Lachende, das jenseitig Verlorene betont. Selbst Thielemanns Lehrer Karajan, gemeinhin als Gegenmodell zu Bernstein verstanden, war da in seiner Mahlerinterpretation näher an seinem vermeintlichen amerikanischen Antipoden.

Dass sowohl Berlioz’ Cellini als auch Mahlers Achte zuletzt vor über neunzig Jahren (!) an der Oper erklangen, sagt viel über die logistischen Herausforderungen beider Werke, aber auch über die ästhetischen Prämissen der institutionellen Musikpflege in Dresden. Unter der Leitung Fritz Buschs gehörten 1929 Berlioz und 1932 Mahlers »Achte« wie selbstverständlich auf den Spielplan. Französische und Wiener Dinosaurier grasten neben den Rehen und Hirschen aus deutschen und böhmischen Wäldern…  

Tilmann Rönnebeck (Papst Clemens VII), Anton Rositskiy (Benvenuto Cellini), Komparserie

Für Theilers Herzensoper, aus Dresdner Sicht heute eine Seltenheit im Repertoire, findet Barbora Horáková eine wunderbar szenische Entsprechung für Berlioz rhythmisch-harmonische Bizarrerien. Ein schreiend buntes Spektakel auf der Bühne macht aus jedem Chor-Tableau ein orgiastisches Vaudeville mit animierenden Affen, schwingenden Schwellkörpern und einer Banane, die in den Händen einer tanzenden Papstmütze — untermalt vom tremolierenden Chorsopran — zum vibrierenden Magic Wand der Massen wird. Da stellt sich natürlich die Frage, inwieweit das Bacchanal der Körper mehr ist als eine visuell-auditive Übersteuerung unserer Sinne. Wie Odysseus lassen wir uns an den Mast binden, um der Versuchung der Sirenen zu widerstehen, während andere für uns arbeitsteilig mit versiegelten Ohren rudern.

Was das Ganze mit Bitcoins und Künstlicher Intelligenz zu tun hat, die auf der Bühne immer wieder referiert werden, bleibt rätselhaft; vielleicht sind sie eine eher müde Geste, quasi vorgeschobene Regiekonzeption. Auch der kleine Junge, vielleicht alter ego von Berlioz und der Regisseurin zugleich, der per Fernbedienung das Kindertheater am Ende einfach anhält, birgt wenig Erhellendes. Die Stärke dieser Inszenierung besteht im quietschbunten Rausch, der die Revuequalitäten der Opera-Comique und ihrer Ursprünge im großangelegten Pariser Boulevardtheater des 19. Jahrhundert so gekonnt vor Augen stellt. Unsere protestantisch deutschen Seelen stellt das bis heute vor ungeahnte Herausforderungen.

Ein engstirnig verstandenes deutsch-romantisches Klangideal bräche an den Herausforderungen, die Berlioz bereithält, ebenso. Umso erfreulicher die Lust am Klang, auch am schräg-witzigen, den die Kapelle unter Oscar Jockel im Graben brodeln lässt. Niederknien möchte man vorm Opernchor und einem Ensemble, die gemeinsam jede Nummer dieser Opernrevue en detail zelebrieren und bis in die letzte Spitze pointiert massieren.

Indirekt liefert Horáková mit ihrer Inszenierung auch einen Fazit für die Intendanz Peter Theilers. Ihre Freude an scharf-bunten Albernheiten erinnert an Konwitschny, den Theiler für eine Reihe bemerkenswerter Altersinterpretationen nach Dresden zurückbrachte. In der Verschränkung von Rausch und Religion überschneidet sich die Regisseurin mit ihrem Regiementor Calixto Bieto, der in Dresden mit »Moses und Aron« und »Le Grand Macabre« Akzente setzte. Und letztlich war Horáková selbst mit insgesamt vier Inszenierungen eine Vertreterin der neuen Regiehandschriften, die Theiler ans Haus holte. Neben ihr wären da Laura Scozzi mit »Il viaggio a Reims« und Marie-Eve Signeyrole mit »Turandot« zu nennen. Für mich selbst die beeindruckendsten Theaterlebnisse unter Theilers Intendanz, die mir ansonsten, wohl auch wegen Corona, eher als ästhetisch uneinheitlich und durchwachsen in Erinnernung bleiben wird.

12. Symphoniekonzert – heute Abend zum letzten Mal (ausverkauft). Übertragung im mdr ab 20 Uhr (für Detailfüchse gehts hier zur Partitur). »Benvenuto Cellini« am morgigen 10. Juli, dann wieder am 30. August, am 19. und 29. September 2024.

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