Wie mag Richard Wagners Tetralogie »Der Ring des Nibelungen« wohl zu Lebzeiten des Dichter-Komponisten geklungen haben? Das Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln begeben sich auf Spurensuche. Die vorerst letzte Station gab »Die Walküre« nun zum Lucerne Festival.
Wagner-Städte gibt es ja viele. Man denke an Leipzig, wo der Komponist seine ersten Lebensjahre verbracht hat, an Dresden, wo er als Hofkapellmeister und verhinderter Möchte-Gern-Revoluzzer gewirkt hat, vielleicht auch an Magdeburg, wo 1836 die erste eigene Opernaufführung herauskam, aber ebenso an biografisch wichtige Städte wie Riga, Paris und München, an Wien und Zürich sowie ganz besonders an Bayreuth.
An Bayreuth kommt natürlich kein Wagnerianer vorbei; dafür hat der Meister selbst gesorgt, freilich mit großzügiger Unterstützung aus der von Steuergeldern gefüllten Kasse seines von bayrischem Blaublut geprägten Lieblings-Mäzens. Aber auch das eher beschauliche, nichtsdestotrotz weltläufige Luzern in der Zentralschweiz ist Wagner-Stadt. Dort wurden etwa »Die Meistersinger von Nürnberg« vollendet und ist 1870 das »Siegfried-Idyll« uraufgeführt worden. Das wunderschöne Wagner-Museum (Wagner selbst sprach hier von einer »wahren Wunderwelt«) kündet davon. Wie schon im Vorjahr stand Luzern während des internationalen Lucerne Festival Ende August mal wieder ganz im Interesse von Wagnerianern aus aller Welt. Grund dafür ist eine sehr besondere Aufführung der »Walküre« gewesen. Deren Premiere gab es in Prag; Folgeaufführungen fanden in Amsterdam, Dresden, Hamburg und Köln statt. Die Schweizer Wagner-Stadt am Vierwaldstädtersee setzte also den Schluss- und vielleicht auch den Höhepunkt.
Dabei steht Wagner mit seinem Schaffen in Luzern nicht unbedingt für das berühmte Eulen-nach-Athen-Tragen, dennoch war das nach wie vor imposante Konzert- und Kongresszentrum Luzern (KKL) mit seinen 1898 Plätzen ausverkauft und hat offenbar ein begeisterungsfähiges Publikum magnetisch angezogen. Und das trotz oder wegen gleich mehrerer Besonderheiten: Natürlich sorgte die konzertante Aufführung der »Walküre« im versuchten beziehungsweise historisch informierten Originalklang für großes Interesse und das Dresdner Festspielorchester gemeinsam mit Musikern von Concerto Köln, dem Dirigenten Kent Nagano sowie einer renommierten Solistenriege für immense Aufmerksamkeit. Zugleich war das Ganze durchaus ein Höhepunkt des diesjährigen (und an Highlights nicht eben armen!) Lucerne Festivals, schließlich war sogar von einer „musikalischen Sensation“ die Rede. Nicht zuletzt ist diese Aufführung aber auch die exakte Halbzeit des von Anfang an international ausrichteten und beachteten Originalklangprojekts namens »The Wagner Cycles« just in dieser Wagner-Stadt.
Die künstlerische Gesamtleitung dieses sehr ambitionierten Unterfangens der Dresdner Musikfestspiele liegt in den Händen deren Intendanten Jan Vogler und des Dirigenten Kent Nagano. Was da im vorigen Jahr mit dem »Rheingold« in Dresden gestartet ist und dann nach einer europaweiten Aufführungsserie ebenfalls in Luzern die vorerst letzte Aufführung fand, strebt allerhöchsten Anspruch an: »Der Ring des Nibelungen« im Originalklang, also mit einem Instrumentarium wie aus der damaligen Zeit, mit Nachbauten vor allem einiger Blasinstrumente, mit Streichern, die überwiegend auf Darmsaiten spielen, mit einem Orchester in der etwas tieferen Stimmung von 435 Hertz – und natürlich auch mit einem recht anderen, sehr eigenen Herangehen im Gesang. Ein großes Projekt also, das wissenschaftlich akribisch vorbereitet wurde und exzellent begleitet wird, um wirklich einen Eindruck zu bekommen, wie Wagners Musiktheater zur Entstehungszeit geklungen haben könnte. Mangels nachhörbarer Aufnahmen aus jener Zeit kommt man um den Konjunktiv nicht herum. Trotzdem gibt es hinreichend Indizien, wie man dem hohen Anspruch, den man sich hier gesetzt hat, gerecht werden könnte. In erster Linie gilt es, Wagners Original zu bemühen. Die Partituren also und die Libretti des Dichter-Komponisten, der bekanntlich sämtliche Texte seines Musiktheaters selbst verfasst hatte. In teils arg kruder Diktion, wie nicht nur aus heutiger Sicht unbedingt angemerkt werden sollte. Zudem konnte aber auch auf Schriften von Zeitgenossen zurückgegriffen werden, auf Hinweise damaliger Gesangspädagogen und stilistischer Berater, auf Äußerungen von Sängerinnen und Sängern, nicht zuletzt auch auf frühe Kritikerstimmen.
Das Ergebnis dieser Herangehensweise ist tatsächlich verblüffend: Stellenweise klingt das groß besetzte Orchester mit knapp einhundert Musikerinnen und Musikern fast kammermusikalisch fein. Kent Nagano versteht Forte und Fortissimo nicht als brachial krachende Lautstärke, sondern stets als dramatisch wirkungsvolle Intensität, der Gesang wird auf diesem Klangboden getragen und muss nicht gegen die orchestrale Wucht ankämpfen, da die Sänger hier vor dem Orchester stehen und über keinen Graben hinweg ansingen müssen. Daher sind sowohl die instrumentalen Stimmen als auch der Gesang wesentlich besser und intensiver zu hören. Dank intensiver Vorbereitungen wird auch „anders“ gesungen und prononciert, kommen Vokale und Konsonanten zur vollen Geltung, wird Vibrato nur selten und dann als bewusstes Gestaltungsmittel eingesetzt, werden einige Textteile regelrecht gesprochen oder gerufen, um ihre Wirkungskraft und Wirkmacht zu erhöhen. Das hätte man sich manchmal sogar noch eine Spur konsequenter gewünscht, was zu einem konsequenteren Ergebnis geführt hätte, doch der Publikumszuspruch in Luzern war ohnehin kaum mehr zu toppen.
Denn neben ausgewiesenen Wagner-Stimmen wie die von Simon Bailey, der einen kraftvollen, aber auch sehr wandlungsfähigen Wotan gegeben hat, wie die von Asa Jäger, die eine hinreißende Brünnhilde verkörperte – emotional mal voller Power, mal anrührend intim -, gab es auch die Wagner-Debütantin Sarah Wegener als berührende Sieglinde und Maximilian Schmitt in seinem Rollendebüt als Siegmund. Herausragend auch wieder Claude Eichenberger als stolze Fricka und Patrick Zielke als tiefdunkler Hunding, beide längst außerordentlich Wagner-erfahren. Doch selbst Kent Nagano, dem nun mal nicht unbedingt eine große Wagner-Expertise nachgesagt wird, erweist sich wieder und wieder als höchst detailverliebt umsichtiger Meister, der sämtliche Fäden in der Hand hat, das Ganze wunderbar koordiniert und nach dieser gefeierten Aufführungsserie nun darangehen muss, die bisherigen Aufnahmen und Einspielungen – »Rheingold« in der Dresdner Lukaskirche und »Walküre« im Kulturpalast – gründlich zu sichten. Denn der Nachwelt soll ja etwas hinterlassen werden von diesem »Ring«-Projekt im Originalklang.
Im kommenden Jahr steht erst einmal »Siegfried« an, dessen Premiere voraussichtlich in Paris stattfinden wird, 2026 dann – 150 Jahre nach der ersten kompletten »Ring«-Aufführung in Bayreuth – soll quasi als Krönung die »Götterdämmerung« folgen. Eventuell erscheinen vorher noch die CDs der ersten beiden »Ring«-Teile. Und hoffentlich gibt es – wie die Veranstalter in Luzern noch einmal deutlich betont hatten – auch weiterhin die finanzielle Unterstützung durch den Bund, der »The Wagner Cycles« als durchaus im nationalen Interesse sieht. Was konsequenterweise auch mal ein unbedingtes Interesse von Bayreuth mit einschließen sollte – denn dort kam die Tetralogie schließlich heraus. Im Originalklang!