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Die Verflossenen

85 Jahre. 65 Jahre. Und 97 Jahre. So alt sind drei unserer Dresdner „Verflossenen“, denen ich im Konzert wiederbegegnen durfte.

Marek Janowski leitete die Dresdner Philharmonie als Chef erstmalig von 2001 bis 2003 und erneut von 2019 bis 2023. In seiner Biografie auf der Webseite des Orchesters steht, er werde „in den kommenden Spielzeiten für eine Reihe von Projekten als Gastdirigent zurückkehren.“ Aber dazu wird es nicht mehr kommen. Marek Janowski hat vor drei Wochen sämtliche weiteren Termine mit dem Orchester abgesagt, darunter auch den konzertanten »Tristan«, der bereits geprobt war.

Nach früheren Querelen mit der Staatskapelle Dresden (wo er regelmäßig von 1974 bis 1989 dirigiert hatte) heißt es nun schlicht aus Musikerkreisen, er werde „nie wieder in Dresden dirigieren“. Wow! Vor einigen Jahren, als der Dirigent den »Ring« in Bayreuth dirigierte, wurde kolportiert, er lege einfach auf, wenn Bayreuths Musikdirektor ihn anriefe (Handelsblatt v. 23.7.2016), im Internet kursieren Videos, wie er Orchester auch mal ob seiner Repertoire-Unkunde zusammenfaltet. Ich erinnere mich an so viele beglückende Konzertabende im alten und im neuen Saal des Kulturpalastes. Und das soll nun alles mit einem verärgerten dirigentischen Schlag zu Ende sein? Wenigstens von fern, im Stream, können wir den zürnenden Maestro gemeinsam mit dem Dresdner Residenzkünstler Augustin Hadelich am übernächsten Sonnabend mit den Berlinern wiedererleben, mit dem Mendelssohn-Konzert und Bruckners Siebter.

Auch der zweite unserer drei Verflossenen war jahrelang für seine brüsken Abgänge berühmt-berüchtigt. Wir wollen das jetzt nicht noch mal alles auffalten, er sagt ja inzwischen, er sei älter und erfahrener geworden, so etwas passiere ihm nicht mehr.

Christian Thielemann dirigierte die Wiener Philharmoniker auf Einladung der Dresdner Musikfestspiele in einem Sonderkonzert im Kulturpalast (Foto: Stephan Floss)

Dass das Dresdner Publikum ihn immer noch liebt und verehrt, war nun im Kulturpalast zu erleben, als er mit den Wiener Philharmonikern zu Gast war und Schumanns Frühlings-Sinfonie und Anton Bruckners Erste Sinfonie auf den Pulten lagen.

Der Maestro humpelte heuer etwas verquer ans Pult, aber was dann folgte, das Dirigieren der Schwerpunkte schwingend nach oben, das organische Laufenlassen der Musik, die klugen Steigerungen, das Ausschreiten (Pacing nennt er es hier), die individuellen, von den Musikern wunderbar in Klang umgesetzten Dirigerbewegungen (erinnerst du dich, lieber Leser, etwa an dieses vorgebeugte überkreuzende Wedeln der Arme nach unten, als wolle der Dirigent gutgelaunt mit zwei Reisigbesen den Strandweg zur Badestelle am Linzer Weikerlsee fegen): dieser Abend war ein Genuss, leise von Trauer grundiert. Trauer um diese herrlichen gemeinsamen Klang-Erlebnisse, die in Dresden begannen mit einer Bruckner Acht – und mit Mahler vorerst endeten (denn auch Christian Thielemann wird für die nächsten fünf Jahre nicht nach Dresden zurückkehren).

Diese Achte Bruckner führt mich am Ende zu unserem dritten Dresdner Verflossenen: Herbert Blomstedt, Kapellchef von 1975 bis 1985. Ihn durfte ich am Freitag mit dem Klangkörper erleben, zu dem Blomstedt 1998 als Chef wechselte, und das er bis vor 20 Jahren legendär erfolgreich leitete: dem Leipziger Gewandhausorchester. Dieses Konzert werde ich nicht vergessen. Nicht, weil es makellos, besonders beispielgebend gewesen wäre. Nein, das war es alles nicht. Dieses Konzert zeigte einfach einen Dirigenten, der nicht mit großen Gesten, sondern allein durch seine physische Anwesenheit Orchester und Publikum in einen magischen, religiös leuchtenden Bann schlug. Das Adagio („Feierlich langsam, doch nicht schleppend“), das schon in Blomstedts einst bei Kamprad erschienenen und letztes Jahr bei Accentus wiederaufgelegten Live-Mitschnitt eine halbe Stunde dauert – Thielemann lässt diesen Satz mit den Dresdnern als orange-goldenes Wolkenband majestätisch fließen, aber eben fließen! –, es wurde in diesem zweiten von drei Konzerten zu einem Monument universaler Ewigkeit, zum Raum wurde die Zeit. Dass Furtwängler und Karajan den Satz in 25 Minuten, Klemperer gar in 22 Minuten durchrast haben, Hartmut Haenchen in einer neueren Einspielung mit der Kopenhagener Kapelle die Musik noch rascher tänzerisch wogen lässt? All das wurde hier bedeutungslos.

Foto: M.M.

Wer die Augen schloss, konnte während dieses zu Harfenklängen ins Jenseits hinübergleitenden Adagios die sanften Landschaften Mittelschwedens imaginieren: die Natur rund um das durch die Adventistengemeinde geprägte Dörfchen Nyhyttan, in das die Eltern Blomstedt vor nun schon fast einhundert Jahren zogen, „Gipfelzüge mit ausgedehnten Fichtenwäldern, Seen, Flüssen und Feldern…“ – Das Finale verklang, und es folgten Momente atemlos gehaltener Spannung, und dann, ja dann stand die Zeit wirklich still, und ich weinte lautlos.

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