Es gibt ein einfaches Rezept für wohlwollende Presse und jubelndes Publikum in der Oper: man nehme ein selten gespieltes Stück, das auf einer bestens bekannten Vorlage basiert. Damit locke man Journalisten. Das besagte Werk sollte möglichst große Chorpartien und viele Blechbläser (am besten Bühnenmusik) enthalten. Solch üppig orchestrierte Werke bewirken bei dem Publikum einen Stadion-Effekt: Begeisterung, Bravi, rauschender Applaus. Für massentaugliche Klassik funktioniert wie die Bar im all-inclusive-Hotel: Hauptsache es knallt! Dieses Rezept wählte die neue Intendanz der Dresdener Staatsoper für ihre Eröffnungspremiere. Erfolgreich, könnte man am vergangenen Samstag gedacht haben: Begeistertes Publikum, über zehn Minuten standing ovations. Bei mir hinterließ diese Premiere jedoch Kopfschütteln und Unverständnis.
Arrigo Boitos auf Goethe’s Faust basierende, einzig vollendete Oper »Mefistofele«, fiel schon bei der Premiere 1868 durch. Es ist kein Glanzstück des genialen Librettisten von »Falstaff« und »Otello«. Ein Nachschlagewerk ordnet das Stück sogar dem „zu Recht vergessenen Opernkanon“ zu. Die Musik hat keinen roten Faden, ist eine wilde Mischung aus Verdis Gassenhauern mit Anklängen von Hochromantik, Verismo und Offenbach. Als musikhistorische Revue ist das Stück sicher nicht uninteressant für einen Fachvortrag.
Doch welche gesellschaftliche Relevanz bietet diese musikalische Bearbeitung des theatralisch abgenutzten Fauststoffes, mit dem Generationen von Achtklässlern in stickigen Stadttheatern gequält wurden? Welche Botschaft will in dieser schwierigen Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs gesendet werden? In einer politisch seit Jahren europaweit in den Schlagzeilen stehenden Landeshauptstadt? Aus einem mit enormer internationaler Strahlkraft ausgestatteten Opernhaus?
Die neue Intendantin Nora Schmid scheint mit der Wahl des Stückes vor allem dem Dresdner Publikum gefallen zu wollen. Dies gelingt. Andächtig nicken die Besucher aus Ihren etwas zu klein gewordenen, selten getragenen Abiball-Anzügen, wenn auf den Übertitel-Projektionen allgemein bekannte Faust-Zitate erscheinen. Dazu schmissige Chöre, Blechbläser und viel zu lautes Schlagwerk – all das hat die Schönheit eines Ikea-Kunstdrucks.
Die Suche nach einer Botschaft bleibt vergeblich. Das einzig Tragische an dieser musikalischen Tragödie ist: der Text des Programmhefts und das Geschehen auf der Bühne driften auseinander wie eine Bild-Text-Schere. Das Inszenierungskonzept brüstet sich zwar mit klugen Phrasen: „bedürfen Menschen der Erlösung?“ „Welche Gestalt hat die Gnade heute?“ All das sind essenzielle Fragen des Faust-Stoffes – vielfach behandelt und nicht neu. Es ist auch kein genialer Einfall, den Mephisto als zentrale Figur des Stücks zu präsentieren. Vielmehr hat dieser Fokus in der deutschen Nachkriegs-Theatergeschichte Tradition.
Mefistofele muss in dieser Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr gleich zu Beginn in völlig überdrehter, clownesker Gestik einen roten Apfel aus einer weißen Stoffserviette zaubern. Diese Serviette findet sich wenig später in einer Videoprojektion wieder, wie man sie schon vor dreißig Jahren auch auf der Bühne einer Theater-AG gesehen hat. Aus der Serviette entsteht in der Projektion, zunächst farblos, später bunt, die Erde: Berge, Flüsse, Bäume, während das Orchester uninspiriert zwischen laut und leise manövriert. Das alles wirkt wie der Versuch von großem Welttheater, mit pathetischem, erhobenem Zeigefinger eines Oberstudienrats. Die Solisten bewegen sich hauptsächlich auf zwei ineinander gesteckten, sich in entgegengesetzte Richtungen bewegenden schwarzen Drehscheiben aneinander (und am Publikum) vorbei. Offensichtlich hat sich Höckmayr so in ihre Bilder verliebt, dass sie vergessen hat, die Personen auf der Bühne zu führen. So ergibt auch das Spiel der Figuren miteinander keinen Sinn.
Die Solisten versuchen, sängerisch das Beste aus diesem Abend zu holen. Krzysztof Baczyk als Mefistofele ist ein Bass von Weltrang und singt die Rolle so pointiert, ausgefeilt und facettenreich, dass es großen Spaß macht, seiner Stimme zu lauschen. Er trägt stimmlich den Abend und hat auch zum Schluss kein bisschen seiner Wärme verloren. Alle feinen charakterlichen Verwandlungen des Teufels – mal überheblich, mal fast unterwürfig – vermag er allein mit seiner Stimme darzustellen.
Pavol Breslik als Faust und seine Margherita Marjukka Temmonen zaubern im vierten Akt, der Kerkerszene, sogar mitreißende musikalische Augenblicke. Hier wird es kurzzeitig hochromantisch schön. Den treuen Faustschen Diener gibt Omar Mancini ebenso präzise wie Nicole Chirka die Marta. Der Staatsopernchor ist präsent und präzise, jedoch fehlt ihm die sonst so einzigartige Wärme. Unnötig dagegen ist Martina Gedecks von der Regie erfundene Sprechrolle.
Bei diesem großartigen Sängerensemble könnte man über die Schwächen der Inszenierung hinweg sehen. Andrea Battistoni aber dirigiert die Sächsische Staatskapelle zu eintönig. Dröge und langsam steigt er ein, peitscht das Orchester zwischendurch zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke und vermag es an entscheidenden Stellen nicht, Chor und Musik zusammenzuhalten. im Vorspiel zum vierten Akt, just als die Chemie zwischen Orchester und Dirigent plötzlich kurzzeitig stimmt, platzt Martina Gedeck ungelenk mit einer Faust-Textcollage in das musikalische Pianissimo.
So endet dieser Abend nach sehr langen drei Stunden mit einem unguten Gefühl: Oper muss nicht immer nur glücklich stimmen. Sie kann nachdenklich oder wütend machen. Sie kann den Besucher ratlos nach Hause schicken. Sie sollte aber auf keinen Fall belanglos sein. Leider dominiert an diesem Opernabend genau dieses Gefühl.