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In allerlei Gedanken

Foto: Oliver Killig

Freudig voran.

Als die neunjährige Clara Wieck am 20. Oktober 1828 erstmals öffentlich konzertierte, bescheinigte ihr der Kritiker, sie sei „mit vielen Musikanlagen ausgestattet“, und: „Unter der Leitung ihres musikerfahrenen, die Kunst des Pianofortespieles wohl verstehenden und dafür mit Liebe sehr thätigen Vaters, dürfen wir von ihr die grössten Hoffnungen hegen.“ Über die vielen Musikanlagen des jungen Pianisten Nikolaus Branny (geb. 2000 in Freital) dürften sich die Leser von »Musik in Dresden« im Klaren sein; im Konzert war er in und um Dresden jüngst bereits häufiger zu hören. Mit fünf begann er mit dem Klavierunterricht, war Schüler des Landesgymnasiums bei Christine Schindler und studiert seit 2020 bei Arkadi Zenzipér an der Dresdner Musikhochschule. Als Solist gastierte er bereits in der Kölner Philharmonie, bei den Schubertiaden Schnackenburg und begleitete den Tenor Jose Cura bei den Dresdner Musikfestspielen.

Am Mittwoch nun war Branny Gast beim 2. Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle, um gemeinsam mit Susanne Branny (und unter den Augen der Verwandtschaft) ein Werk seines Urgroßvaters Hans-Helmut Küchler (1894-1942) zur Wieder(ur)aufführung zu bringen. Küchler, Küchler?, werden Geiger mit leisem Schauern denken, der Küchler, dessen achtbändige Violinschule ich einst durchleiden musste? Nein!, wehrt Helmut Branny im Gespräch belustigt ab, mit diesem Ferdinand Küchler (1867-1937) habe der musikalische Vorfahr der mütterlichen Branny-Linie nichts zu tun.

Längst verklungen.

Über die weiteren Umstände der Komposition und das Leben des in Dresden geborenen Komponisten ist allerdings nicht viel bekannt. Nach dem Musikstudium, das durch den Kriegsdienst unterbrochen wurde, dürfte die fünfsätzige Suite in den 1920er Jahren entstanden sein. „Ernsthaftes Mühen – Längst verklungen – Freudig voran – In allerlei Gedanken – Übermut“ sind die Sätze bezeichnet. Es ist nicht ganz einfach, einen dramaturgischen Faden auszumachen; eher wirkt es, als seien die Sätze zu verschiedenen Zeiten komponiert und schließlich in einer sinnvollen Reihung als „Suite“ vereint worden.

Einmarsch deutscher Truppen 1941 in die Stadt Charkow (Aufnahme: Bundesarchiv, Quelle: Wikimedia Commons)

Ernsthaftes Mühen.

Klavierpart wie Geigenstimme sind einigermaßen anspruchsvoll, einmal hat der Pianist, einmal die Geigerin im musikalischen Zusammenspiel die Nase vorn. Ein sanglich-solistisches Spiel der Geige steht nur selten im Vordergrund, eher lebt die Suite von einer Verflechtung von Stimmen, Themen, charakteristischen Einfällen, von denen viele auf musikalische Vorbilder des 19. Jahrhunderts rekurrieren. In einem Wort: kurzweilig!, und unbedingt einmal in Ruhe wiederzuhören. Vielleicht ja demnächst in der „Meisterinterpreten“-Konzertreihe, die Helmut Branny seit einigen Jahren in Dippoldiswalde verantwortet?

Nachdem russische Bomben am Dienstagabend in Charkiw das erste Hochhaus der Sowjetunion zerstörten – gebaut wurde es, während Küchler in Dresden an seiner „Suite“ werkelte –, starb am Mittwochabend in eben jener Stadt, in der der 1939 erneut eingezogene Soldat Hans-Helmut Küchler kurz vor Weihnachten 1942 als vermisst gemeldet wurde, ein Kind.

In allerlei Gedanken.