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„Wettbewerb ist Wettbewerb, da wird trainiert!“

Fotos (2): Tobias Ritz

Es waren die letzten warmen Tage des Jahres 2024, als ich Niklas Jahn das erste Mal auf dem Neumarkt zuwinkte. Wir gingen gemeinsam eine Runde um die Frauenkirche, redeten kurz vor seiner Vorstellung zur Jahrespressekonferenz seiner neuen Arbeitgeberin, der Stiftung; später telefonierten wir lange und sind vor kurzem (da war es schon richtig kalt) noch einmal in Striesen beim Glühwein und später an einer kleinen einmanualigen Übe-Orgel zusammengetroffen. Durch unsere Gespräche zog sich meine Neugier, was den gläubigen Katholiken denn nun eigentlich nach Dresden zog, und seine durch nichts und niemanden zu erschütternde Freundlichkeit, Wissbegier und Aufgeschlossenheit seiner neuen Heimat und ihren Bewohnern gegenüber…

Niklas Jahn, stellen Sie sich zuerst bitte einmal vor. Stammen Sie aus einer langen Ahnenreihe von Kirchenmusikern, oder sind Sie sozusagen eher aus der Art geschlagen?

Definitiv letzteres. Ich wurde 1996 in Fulda geboren, am 24. Dezember, übrigens ein schwieriges Datum für jemanden, der eigentlich gern Geschenke bekommt! Dass ich früh mit Musik in Berührung kam, hat schon mit meinen Eltern zu tun, ohne dass wir ein besonders musikalischer Haushalt gewesen wären – im Gegenteil. Aber ich bin sehr christlich sozialisiert. Als ich in unserem kleinen Dörfchen das erste Mal auf der Empore stand und die Orgel hörte, hat mich das inspiriert. Meine Eltern gaben mich in die musikalische Früherziehung, da war ich fünf. Dann ging es mit sechs, sieben weiter mit einer klassischen Klavierausbildung. Das hatte zunächst gar nichts mit Kirchenmusik zu tun. Meine Eltern hätten sehr gern beide selbst ein Instrument gelernt, aber das wurde ihnen immer verwehrt, weil sie beide aus einem landwirtschaftlichen Umfeld kommen; da war einfach keine Zeit, keine Muße und auch kein Verständnis für Kultur. Nachmittags nach der Schule ging es auf den Acker für sie. Nun wollten sie gern, dass mein Bruder und ich die Möglichkeit bekamen, ein Instrument zu lernen. Natürlich hatte ich in dem Alter noch nicht den Horizont à la: ich möchte später mal Organist an der Dresdner Frauenkirche werden!

Auch meine Söhne haben in diese Welt hineingeschnuppert. Leider ist keiner der beiden dabeigeblieben, und als Vater wusste ich auch nicht so richtig, ob ich sie weiter triezen sollte.

Hm, ich war schon immer ein fleißiger und disziplinierter Über, das ist ein Wesensmerkmal von mir. Ich habe das also brav durchgezogen mit dem Klavier und war auch ehrgeizig: wenn etwas nicht geklappt hat, hats mich gewurmt und habe bei schwierigen Stellen nach Lösungen gesucht. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich, als meine Musikschullehrerin länger ausfiel und die Frage im Raum stand, ob und wie es überhaupt weitergeht. In unserem Nachbarort gab es einen ganz jungen Kirchenmusiker, der gerade das A-Examen gemacht hatte. Mein Bruder hatte da gerade so ein Motivationsloch, wie Sie es beschreiben, und meine Eltern wollten deshalb gern einen Lehrer, der altersmäßig nah an uns dran war. Aber, man muss das betonen: mein Vater dachte, dass die Orgel als Instrument unantastbar ist! Es stand für ihn nicht wirklich zur Debatte, dass wir dieses Instrument lernen könnten.

Es war dann dieser Kirchenmusiker, der uns beide dafür begeisterte. Das Bistum finanzierte den Klavierunterricht mit, das war für meine Eltern natürlich attraktiv. Und irgendwann wurden wir geködert: hey, wie siehts denn aus, wollt ihr vielleicht Orgel lernen? Mein Bruder begann, und als ich elf war, machte ich mit. Bis dahin waren meine Beine zu kurz für die Orgelbänke gewesen. Wenn ich heute gefragt werde, wann Kinder mit dem Orgelspiel anfangen können, sage ich: wenn die Bank tief genug geht oder die Beine lang genug sind!

Nun waren Sie also endgültig angefixt. Wie ging es dann weiter?

Als ich die Orgelpedale mit den Füßen erreichen konnte, gings los. Irgendwann entdeckte der Lehrer mein Talent und ermutigte mich, beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ mitzumachen. Ich bin ein Sportsmann, Wettbewerb ist Wettbewerb, da wird trainiert! Ich hatte bloß keine Idee, wo ich stehe; ich kannte ja musikalisch nur meine Heimat Fulda und an anderen jungen Organisten nur meinen Bruder. Ich wurde dann für mich überraschend Landessieger in Hessen in meiner Altersklasse und bekam auch einen dritten Preis auf Bundesebene. Im Finale in Stuttgart fragte ich mich: wie kann es denn sein, dass die anderen besser sind und schon so schwere Sachen spielen? Damals änderte ich aktiv selbst etwas und sagte zu meinen Eltern: ich möchte gern das Geheimnis lüften, wie man so gut wird. Dann schrieb ich dem Domorganisten am Hohen Dom zu Fulda einen Brief und bat ihn, mich zu unterrichten.

Das war Hans-Jürgen Kaiser, der an der Mainzer Universität auch eine Professur für Orgelimprovisation innehat.

Er hatte den Ruf, sehr streng zu sein. Es hieß, dass das bei ihm eine harte Schule wäre. Der Wechsel zu ihm fiel mir nicht leicht, aber er hat mich dann acht Jahre lang im Orgelunterricht gefordert und gefördert. Die Verbindung zur Hochschule ging schnell; ich fing dort als Frühstudent an. Ab vierzehn, fünfzehn war mein Leben komplett auf das strukturierte Üben ausgelegt. Neben dem Abitur habe ich das hinbekommen, an einigen Wettbewerben teilgenommen. 2017 gewann ich beim „Wettbewerbsfestival der Sonderpreise“ (WESPE) den Sonderpreis in der Kategorie Orgelimprovisation. So kam eins zum andern. Ich hatte dann ein sehr gutes Abitur und dachte über ein Medizin-, Jura- oder Psychologiestudium nach. Oder ob ich doch Kirchenmusik machen sollte?

Meine Eltern sagten damals: mach, was dich am meisten reizt. Abends lag ich des Öfteren im Bett und dachte, warum kriege ich diesen Chopin nicht hin? Es hat mich immer interessiert, da Lösungen zu suchen, und ich entschied mich, diesen Weg weiterzugehen. Es brannte in mir! Ich habe also in Mainz studiert, Kirchenmusik im Bachelor, und bin dann nach Freiburg gewechselt für das Masterstudium. Dort habe ich neben dem Master in Kirchenmusik künstlerisch vertiefend im Master Orgelimprovisation und Master Chorleitung studiert. Das waren drei ganz schöne Batzen nebeneinander.

Jetzt sollten wir noch das Wegstück nachzeichnen, das Sie schließlich nach Dresden führte. 

2015, mit siebzehn, ergatterte ich bei Jugend musiziert mit 23 Punkten den zweiten Preis auf Bundesebene. Ich hatte damals das Gefühl: da geht noch mehr. Den ersten Preis bekam damals übrigens Lukas Euler, der heute in Darmstadt Kirchenmusiker ist und in Frankfurt gerade eine Gastprofessur für Orgelliteratur angetreten hat …

…und der genau wie Sie bei der Ausschreibung zum Frauenkirchenorganisten in die Finalrunde kam. Ein Show-down!

Ehrlich gesagt, als ich las, dass er sich auch auf diese Stelle bewirbt, kamen Erinnerungen von unseren vielen Treffen bei Orgelwettbewerben hoch, bei denen er oft die Nase vorne hatte, und ich musste schmunzeln. Der Impuls, sich in Dresden zu bewerben, war ja von meinen Lehrern in Freiburg gekommen. Sie konnten sich vorstellen, dass ich dafür ein passender Kandidat sein könnte. Ich sagte, hm, das ist doch eine evangelische Stelle? Für mich war das kein Problem, aber ich dachte, es wäre ein Ausschlusskriterium für die Auswahlkommission, dass ich katholisch sei, dass meine Bewerbung sofort in den Papierkorb geworfen werden würde. Ich rief also Maria Noth, die Stiftungsdirektorin, an und fragte, meinen Sie das ernst? Ihre Auskunft war: Herr Jahn, die Ausschreibung ist gezielt an alle gerichtet, wir wollen die oder den besten haben! Da war für mich klar, das probiere ich. Mein französischer Kollege Olivier Latry, der ab diesem Herbst zum wiederholten Mal Organist im Kulturpalast ist, hat über seine Bewerbung in Notre-Dame erzählt: ‚ich bin da hin und dachte, du hast doch eh keine Chance…‘ So habe ich einfach versucht, meine Arbeit gut zu machen. Das war also der Prozess, der dann ein glückliches Ende fand. 

Nun sind glaube ich nicht einmal vier Prozent aller Sachsen katholischen Glaubens. 80% der Dresdnerinnen und Dresdner sind Atheisten. Für jemanden wie Sie liegt es da nicht gerade nahe, sich hierher zu orientieren, oder?

Das ist richtig. Ich war mir aber der Bedeutung der Dresdner Frauenkirche immer bewusst! 2019 war ich das erste Mal hier und habe mir das Prachtstück angeschaut. Meine Eltern sind absolute Frauenkirchenfans und haben mir letztes Jahr noch vorgeschwärmt, wie toll die Kirche sei. Ich habe mich hierher beworben, weil für mich das Gesamtpaket schlüssig ist. Ich wollte immer an einer Stelle wirken, wo das Liturgische mit dem Konzertanten auf Augenhöhe ist. Das sehe ich in der Frauenkirche erfüllt. Man hat das Gefühl, dass man Leute bewegen kann und dass es ein großes Interesse gibt, durch das ich mich angeregt fühle, weiter an mir zu arbeiten. So ein Druck ist manchmal nicht gut, aber manchmal auch nicht schlecht.

Können Sie uns noch ein bisschen aus dem Bewerbungsverfahren verraten: wie liefen die Vorauswahlen, wann saßen Sie zum ersten Mal an der Kern-Orgel – und was war da gefordert? 

Acht oder neun Kandidaten wurden vor ein paar Monaten zu einem Gespräch nach Dresden eingeladen. Es gab eine große Berufungskommission mit Orgelprofessoren aus ganz Deutschland, darunter Namen wie Arvid Gast oder Gerhard Weinberger. Mit dieser Jury gab es ein einstündiges Gespräch, bei dem ich unter anderem ein Konzept für einen Gottesdienst und ein Konzert ad-hoc entwickeln sollte. Da ging es viel um künstlerische Ansichten, vielleicht auch persönliche Dinge. Daraufhin gab es dann eine Einladung in das Finale. Bis dahin hatte ich noch keinen Ton gespielt. Im Finale hatten wir dann eine kurze Vorbereitungszeit, bevor wir ein dreiviertelstündiges Konzert spielen sollten. Pflicht war ein Bach-Stück. Aber es gab auch die spannende Aufgabe einer freien Improvisation nach einer Predigt. Die Predigt kannte ich nicht, musste also spontan reagieren. Die Besonderheit bei meinem Konzertprogramm war: ich hatte zur Hälfte Improvisationen aufs Programm gesetzt, obwohl das nicht explizit gefordert war. Darunter waren eine größere Fuge im Stil von Max Reger oder ein Triosonatensatz im barocken Stil. Nachher hat es zwei Wochen bis zur Rückmeldung gedauert. Ich habe auf Kohlen gesessen. Aber die Nachricht war positiv, und ich habe mich riesig gefreut, freue mich noch immer.

Die Stelle des Frauenkirchenorganisten stellt viele verschiedene Anforderungen an Sie. Sie werden als Allroundtalent gefordert sein, Gottesdienste, Hochzeiten, große Orgelkonzerte – was kommt da genau auf Sie zu? 

Das wird sich erst so richtig zeigen, wenn ich vor Ort bin. Wir haben das theoretisch auf dem Papier zwar festgehalten, aber nach ein paar Monaten weiß ich sicher besser, was mich da genau erwartet. Geplant ist, dass ich eine Anzahl von Andachten in der Woche und eine Anzahl Hauptgottesdienste pro Monat übernehme. Natürlich bin ich für die Orgelkonzertreihen und die Koordination mit den anderen Dresdner Kirchen verantwortlich. Dazu kommen die Feiertagsgottesdienste. Ich möchte das Rad nicht neu erfinden, aber unbedingt die Brücke schlagen zu modernen Konzertformen. Was meine Konzerttätigkeit anbelangt – hier bekomme ich momentan unglaublich viele Anfragen –, ist mein Plan, dass die Frauenkirche Vorrang hat. Die Zeit wird zeigen, was ich an Konzerten außerhalb von Dresden wahrnehmen kann. Vielleicht ergibt sich ja auch etwas in Sachen Lehrtätigkeit.

Die Rolle eines Kirchenorganisten, gerade an einer großen Stadtkirche mit vielen touristischen Gästen, hat sich über die Zeiten sehr gewandelt. Welche Qualitäten, welche Stärken bringen Sie mit?

Spontaneität ist wichtig, glaube ich. Man muss erspüren: wie ist die Atmosphäre, was passiert vielleicht gerade politisch, was bewegt die Menschen gerade, wenn sie in die Frauenkirche kommen? Man kann mit Musik vieles ausdrücken und Anteil nehmen. Und: Mitgefühl! Man muss erkennen, wann kann man auch mal aus sich herausgehen und außergewöhnliche Sachen spielen? Es schadet nicht, wenn man da ein bisschen mit dem Zeitgeist mitgeht. In der Kirchenmusik generell gibt es da momentan wenig Aktivität. Auch in den sozialen Medien möchte ich, dass die Orgelmusik mehr Präsenz bekommt. Vielleicht haben Schulklassen da ein Reel gesehen, und das interessiert sie, einmal in die Frauenkirche zu kommen? Deswegen war es vielleicht eine gute Entscheidung, für die Frauenkirche jemand jüngeren zu verpflichten, der mit solchen Blickwinkeln aufgewachsen ist und die Generation Handy versteht. Man muss einfach immer die Augen und Ohren offen haben. 

Worauf sind Sie neugierig in Dresden? Und was haben Sie von Ihrem jüngsten Besuch hier rund um die Kirche schon mitgenommen an ersten Impulsen?

Ich bin auf jeden Fall voller Vorfreude, aber auch voller Demut und Respekt ob der anstehenden Aufgaben. Das trifft es eigentlich schon. Alles weitere wird sich vor Ort ergeben. Ich freue mich, meine Stiftungskollegen persönlich kennenzulernen und mit den Dresdnern in Kontakt zu treten, mir ein soziales Umfeld aufzubauen. Ich freue mich auf ein schönes Miteinander. 

An welchen Abenden kann das Publikum Sie demnächst erleben?

Natürlich werde ich jetzt in der Advents- und Weihnachtszeit oft zu hören sein, in den Gottesdiensten und Konzerten zum Beispiel; und an Neujahr dann live im ZDF

Außerdem würde ich vielleicht gleich auf ein Konzert verweisen, das noch ein paar Monate hin ist, mir aber sehr am Herzen liegt. Am 1. Oktober 2025 spiele ich im Rahmen des Dresdner Orgelzyklus‘ ein Konzert mit dem Titel »Innovation und Kreativität aus dem Stegreif«. Da kann man das musikalische Brückenschlagen von klassischer zur sehr innovativer Orgelimprovisationskunst erleben. Es geht mir darum, alte Formen der Improvisation zu pflegen, aber auch neue erlebbar zu machen.

Zum Schluss eine klassische Bewerbungsfrage: Wo sehen Sie sich als Frauenkirchenorganist in fünf und in zehn Jahren? Oder einfacher: welche Schwerpunkte wollen Sie an der Frauenkirche weiterentwickeln oder ganz neu einführen?

Da schwebt mir unter anderem ein Improvisationsfestival vor. Ich habe die Vision, Gastorganisten einzuladen, die vielleicht ab und zu auch etwas modernes machen; vielleicht mit Elektronik, Synthesizer oder ähnlichem. Ich denke auch an Orgelimprovisationen zu Stummfilmen, die in der Kirche gezeigt werden könnten. Letztens habe ich so ein Improvisations-Konzert gemeinsam mit einem Comiczeichner gemacht. Bei alldem gilt für mich, dass die Frauenkirche ein klassischer Ort ist, an dem auch die klassische Orgeltradition gepflegt werden sollte. So hoffe ich, dass die Leute in fünf oder zehn Jahren sagen: wow, an der Frauenkirche ist wirklich etwas Neues entstanden. Der Niklas Jahn hat uns mitgenommen und uns nicht überfordert. Und dann werden wir mal weitersehen.

Eine Kurzfassung des Interviews ist am 3. Dezember 2024 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen.

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