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Ästhetisierung des Schmerzes

„Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen war. Der erstaunliche Zuwachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stellt uns in naher Zukunft die eingreifendsten Veränderungen in der antiken Industrie des Schönen in Aussicht. In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen. Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schießlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“

Paul Válery: Pièces sur l’art. Zitiert in: Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«

Wer am Sonntag ganz spontan die Uraufführung der neuen Requiemskomposition von Sven Helbig hören wollte, dürfte an der Kartenkasse abgeblitzt sein. Die Kreuzkirche war bis unters Dach und bis auf den letzten Platz ausverkauft, man hört, hunderte von Wartenden hätten keinen Einlass mehr gefunden. Wann hat es so einen Andrang das letzte Mal in Dresden gegeben? Überhaupt, wann hätte ein zeitgenössisches Werk der sogenannten ernsten Musik zuletzt solch überwältigendes Hörinteresse hervorgerufen? Anfang der Achtziger?

Es ist gut und richtig und wichtig, dass der Kreuzchor das ganz spezielle Dresdner Gedenkritual rund um den 13. Februar regelmäßig mit neuen musikalischen Werken befragt. Dieses Jahr, zum runden 80. Jahrestag der Zertrümmerung der Stadt, hat es Sven Helbig übernommen, eine Trauermusik darauf zu schreiben. Sie bezieht die einzelnen Sätze auf verschiedene Orte des zerstörten Dresdens und verzichtet dabei auf allzu krasse musikalische Shock-and-Awe-Momente, sie möchte versöhnen und trösten: Dieses Requiem sucht den Weg aus der tragischen Erfahrung zurück ins Leben.

Widmeten sich der komplexen Uraufführung am Sonntag ernsthaft und mit höchster Konzentration: Kreuzkantor Martin Lehmann, René Pape, Staatskapelle Dresden und Kreuzchor (Foto: Oliver Killig)

Ich kann und möchte über dieses neue audio-visuelle Gesamtwerk keine Rezension schreiben. Warum? Weil ich mich in der Sprache, die es spricht, zu wenig auskenne. Weil ich doch offenbar mit einer Erwartungshaltung ins Gedenkkonzert gekommen bin, die dieses Werk, so schilderte es mir Sven Helbig im Gespräch, eigentlich zu unterlaufen versucht. Und der sie am Ende doch nicht entkommen kann. So kann ich nur kurz beschreiben, was sich mir erschloss, und du, lieber Leser, kannst ab dem 13. Februar am besten selbst hören und sehen, ob du ähnlich empfindest.

Das neue Requiem ist ein Werk für Chor, Orchester, Live-Elektronik und „Visuals“, großformatige Videoprojektionen, auf die ich noch zu sprechen komme. Und, fast vergessen!, für eine Solo-Bassstimme! Was hatte ich mich gefreut, wie gespannt war ich auf einen der seltenen Auftritte René Papes in Dresden. Sein Beitrag zu diesem Konzert war die zweitgrößte Enttäuschung, da seine Stimme durch eine fehlerhafte Mikrofonierung verzerrt und unverständlich gemacht wurde. Papes Arien klangen wie aus dem Heizungskeller ins Treppenhaus der Kreuzschule gerufen. Das kann vom Komponisten nicht so gewollt gewesen sein: in den Proben ist Pape gut verständlich, wie ein Beitrag von „Artour“ beweist. Vielleicht gelingt es den Toningenieuren, die Aufnahme bis zur Ausstrahlung auf ARTE dementsprechend zu reparieren, es wäre Pape und Helbig (und uns, den Hörern) zu wünschen.

Was das Musikalische angeht, bringt es nichts, das Werk in Traditionslinien stellen zu wollen. Man wird ihm dadurch nicht gerecht. Zu konstatieren ist, dass es nicht banal klingt. Übermäßige und verminderte Akkordschichtungen, Sekundschritte und -reibungen, rhythmisch tickende und ruckende Passagen, eine sich windende Melodie, die sich später terzverdoppelt… Das alles sind Beschreibungen von gestern. Wie geht man als Musikkritiker mit der milden Ästhetisierung des Schmerzes in diesem und ähnlichen Werken um? Zumal, wenn die Live-Elektronik diesen Schmerz durch Glockenklänge, durch ätherisches Basswummern und ähnliche Überwältigungsstrategien noch herznäher, noch bildreicher abzuformen sucht?

Foto: Oliver Killig

Womit ich noch kurz zur größten Irritation dieser Uraufführung komme: der musikbegleitenden Projektion von Máni Sigfússon. Der Videokünstler hat Sven Helbigs Musik eine Abfolge von durch künstliche Intelligenz erstellten Zeitlupen-Filmen an die Seite gestellt, die in der Kreuzkirche auf ein großes „A“ projiziert werden, das im gesamten Kirchenraum, von der Höhe der ersten Empore bis unter die Decke, abgespannt ist. In diesen Filmen wird eine postapokalyptische Lichtsymbolik in einer Naivität und Kitschigkeit zelebriert, die platt und verfehlt wirkt. Was gezeigt wird? Moment, woran erinnere ich mich: ein schwarzes Meer im Sonnenaufgang, aus dem kleine Seelenkerzchen emporsteigen. Eine vom Zahn der Zeit angeknabberte Engels-Skulptur. Eine menschliche Figur, in einem Licht-Wirbel schwebend, an der Grenze zum Jenseits vielleicht. Ein verlassener Kirchenaltar, der langsam von der Natur überwuchert wird. Und schließlich irgendwelche Zeugnisse früherer menschlicher Existenz, die, Zeit und Raum enthoben, hochästhetisch in Zeitlupe umherwirbeln. Die Zeit ist aus den Fugen, die Menschheit ist aus den Fugen, Gott ist tot, die Natur nimmt sich die Welt zurück, statt der Synapsen züngeln nun die Luftwurzeln? Was wollte uns Máni Sigfússon mitteilen, das nicht schon durch die Musik ausgedrückt wird? Mark Zuckerbergs Algorithmen belohnen denjenigen, der populäres fürs große Publikum schafft. Das wäre jedenfalls eine Erklärung für diese visuellen Trivialitäten, diese krokodilstränigen Clips, die leider auch technisch krankten, sie ruckelten und zuckelten, es war kaum auszuhalten, am besten, man schloss die Augen.

Rudolf Mauersberger erreichte mit seiner Trauermotette »Wie liegt die Stadt so wüst«, die der Kreuzchor dem neuen Requiem voranstellte, mit minimalen stilistischen Mitteln einen maximalen Eindruck. Was für ein Kontrast zum nachfolgenden Requiem: mit den Tripp-trapp-Wanderungsbewegungen des Kreuzchors, mit den elektronischen Zuspielungen, mit den kleinen Leselampen der Choristen, die am Ende nach und nach ausgeknipst werden, mit dem ins Lateinische übersetzten neuen Text, mit geflüsterter Lyrik…

Der kraftvollste, zu Herzen gehende Moment des Abends: das Verlöschen aller Lichter, bis nur noch das weiße, nun aller Bilder entleerte „A“ im dunklen Kirchenraum schwebte. Stille. Dann ein Bravoschrei (einer Kreuzchor-Mutti?), der durch die Sitznachbarn niedergezischt wurde. Wir sind in Dresden.

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