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Unschuld und Sühne

Mario Lerchenberger (Bräutigam), Rosalia Cid (Braut), Timo Riihonen (Priester), Sächsischer Staatsopernchor Dresden. Foto: Sebastian Hoppe

Die Neuinszenierung der Oper »Innocence« der finnischen Komponistin Kaija Saariaho (1952-2023) an der Semperoper bezaubert und verstört

Kaija wer? Es wird Zeit, dass das Dresdner Publikum von dieser finnischen Komponistin, die in einer BBC-Hitliste von Komponisten dieser Welt zwischen Haydn und Brahms landete, Notiz nimmt. Die fünfaktige Oper »Innocence« (Unschuld) ist Saariahos fünfte und letzte. Sie feierte nach einem jahrelangen, komplexen Schöpfungsprozess zu einer Zeit Premiere, da die Wahlpariserin bereits mit einer Tumordiagnose an den Rollstuhl gefesselt war. So kommt man nicht umhin, das Werk, das sich mit einem schrecklich aktuellen und traumatisch aufgeladenen Thema befasst, als Sendbotschaft an uns, ihre Nachfahren, zu begreifen.

Zumal in Dresden. Geht es doch hinter dem verstörenden, sicher bewusst holzschnittartigen Hauptplot – eine Hochzeitsfeier, der verstoßene Bruder des Bräutigams hat vor Jahren seine Mitschüler getötet, unter denen die Tochter der Kellnerin Tereza war – um Fragen von Schuld und Sühne, um Rituale, mit unsagbaren und undenkbaren Erlebnissen fertigzuwerden. So manches Mal, wenn etwa die Mutter des Täters seine Taten wortreich zu rechtfertigen sucht, wenn der Bräutigam gesteht, seinen Bruder noch immer zu verehren und zu lieben, wenn die Überlebenden der Tragödie wie im Abspann eines kitschigen Kinodramas Frieden und Neuanfang suchen: „Anton zog in ein anderes Land und begann ein neues Leben. Nur manchmal, wenn er mit dem Rücken zur Tür saß, überkam ihn ein Schauer…“, denkt man im Publikum an historische deutsche Verstrickungen, an Familientragödien, an „Schuldkult“ (wie es in rechten Schwurbelkreisen heißt) und Erbsünde.

Foto: Sebastian Hoppe

Beim Premierenbesuch am Samstag befremdeten mich einige Details der vom überraschend jungen (!) Publikum lautstark gefeierten Inszenierung (Regie: Lorenzo Fioroni, Bühne: Paul Zoller, Kostüme: Annette Braun). Etwa, wie verstaubt und gestrig die theatralischen Gesten der handelnden Personen wirken! Die gesamte Bühnenhandlung scheint (aus Respekt vor der Komponistin?) nur aus Bruchstücken bekannter Operntopoi, aus Gemeinplätzen und sattsam bekannten Stereotypen zusammengesetzt zu sein. Alle Elemente, die wir auf der Bühne der Semperoper sehen, sind uns leidlich bekannt, ob bei den Kostümen, der Ausstattung, der Personen- und Gruppenregie, den technischen Bühnenmitteln (Regen, Schnee, Live-Videoprojektionen, Stroboskopblitze etc.), den Gesten und sogar der Mimik der Sänger, nichts überrascht, nichts provoziert. Und das bei dieser herrlich vielschichtigen, zeitgenössischen, farben- und anspielungsreichen Musik, für die die Staatskapelle unter Maxime Pascal (*1985, Hausdebüt) einen jubelnden Extra-Applaus kassierte! Das ist dann doch eher selten am Haus: dass die Inszenierung deutlich angejahrter wirkt als die Oper selbst.

Ihre neue Oper solle nicht länger als 105 Minuten dauern, hat sich Kaija Saariaho einst vorgenommen. Fast wünscht man sich, sie hätte am Ende noch mehr konzentriert, verdichtet und – gekürzt. Viele Elemente wirken hilflos repetitiv, treten auf der Stelle. Aber vielleicht ist das ja auch ein Effekt nach so einem traumatischen Lebenseinschnitt: die Zeit ist aufgehoben, sinnlose Rituale schleichen sich ein. Wie, dass Tereza immer wieder die Lieblingsäpfel für ihre verstorbene Tochter kauft, jeden Tag vor der Musikschule auf sie wartet… „Wir suchen derzeit händeringend nach Wegen, um diese Krisen zu überstehen“, sagte die Komponistin nach Ausbruch der Covid-Pandemie, „Ich hatte das starke Gefühl, dass es eine gute Gelegenheit war, um über die Zukunft nachzudenken, über den Planeten und unseren Platz darin [sic].“ Vor allem: „Es ist ganz klar, dass wir eine andere Art zu leben finden müssen.“ Egal, ob der Blick nach Washington, nach Moskau oder nach Berlin geht: diese Chance scheinen wir vertan zu haben. Das Leben ist momentan beileibe nicht so wie vor der Pandemie. Es ist armseliger geworden.

Nächste Vorstellungen: 23., 26., 31. März, 4., 11. April.

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