Barenboim, der Magier aus einer anderen Zeit: wo sich heute kein Künstler mehr trauen würde, das Blumenmädchen auch nur scheu zu drücken, nahm der Dirigent am Sonntagabend im Applausregen des Publikums erst die Konzertmeisterin Cello, dann die Erste Konzertmeisterin in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. Es war die sanfteste Geste des gesamten Abends; denn vorher hatte der Dirigent seine Staatskapelle unerbittlich zum akustischen Exzess getrieben. In einer Lautstärke nah am Hörsturz galoppierten die Musiker durch Brahms‘ dritte und vierte Sinfonie, als ob es gelte, das Berliner Olympiastadion zu beschallen. Dabei war’s nur die ausverkaufte Semperoper mit ihrem kleinsten Konzertzimmer (hinter dem Proszenium zwei Säulen pro Seite), in dem sich allein sechzehn erste und vierzehn zweite Geigen, zwölf Bratschen, zehn Celli und acht Bässe abarbeiteten. (zum Vergleich: »Christian Thielemann conducts Brahms – The Symphonies«)
Fast durchgängig fühlten sich die Sinfonien an, als führe da einer im dritten Gang bei absolutem Vollgas auf der Mittelspur, als wollte Barenboim den musikalischen Ideen durch schieren Druck zur Geltung verhelfen. Da rissen Bogenhaare, flogen Frisuren und polterten Kinnstützen zu Boden: kein Halten, kein Dämpfen, kein Zaudern gab es da, die Sätze wurden zumeist quasi attacca aneinandergekettet, ohne wenigstens ein tiefes Luftholen zwischendurch. Die Sinfonien bekamen so eine ungekannte Dichte, Dramatik und Eindringlichkeit, aber sie waren über lange Strecken schwer auszuhalten. Lediglich bei den Soli der Holzbläser (berückend schön die Hörner! Extraapplaus…) wurde der Streicherapparat kurz zurückgehalten, bevor er in die nächste Schlacht geschickt wurde. Und wieder angreifen. Und wieder. Und wieder.
Das Publikum klatschte am Ende fast ungläubig, und erst die mahnenden, fast empörten Blicke Barenboims, der sodann die einzelnen Parkettbereiche einzeln abschritt, in die Ränge winkte und für das Orchester und die einzelnen Musik-Gladiatoren Applaus einforderte, schürten und steigerten die Begeisterung der Besucher ins Hypnotische. Am Ende schienen alle überzeugt: ja, so einen Abend haben wir schon lange nicht mehr erlebt. Was ja auch sicherlich irgendwie stimmte.
Es gibt eigentlich aus diesem Konzert zur eine Konsequenz zu ziehen: neben den Konzerten mit der Staatskapelle, neben Macbeth und Tristan und »Ring«, neben Waldbühnenkonzert (am 17. August feiert das East Western Diwan Orchestra dort unter Barenboim sein zwanzigjähriges Jubiläum) und den Philharmonikern Anfang Juni, neben der geplanten Welturaufführung eines Widmann-Werkes und den Konzerten in London, Salzburg, Wien und Luzern und dem Pariser Beethoven-Sonatenzyklus in den nächsten Monaten sollte der Berliner Senat Daniel Barenboim die Fertigstellung des Hauptstadtflughafens anvertrauen. Nur mit dieser unbändigen, rasenden Energie, mit dieser zornigen Unerbittlichkeit, dieser mentalen Schärfe und diesem ungnädigen Druck lassen sich Projekte wie der BER noch zum Erfolg führen.