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„Und plötzlich ist man süchtig“

Foto: Julie Schönewolf

Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.

Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.

Mascha Kaléko. Geboren 1907, aufgewachsen in Berlin, wo sie zum Kreis des „Romanischen Cafés“ um Tucholsky, Ringelnatz, Kästner gehörte. Januar 1933 erschien ihr erster Gedichtband und wurde sofort ein Erfolg: ihre Lebenslust, ihr komödiantisches Talent sprechen aus den Zeilen des „Lyrischen Stenogrammheftes“ und machen die Dichterin über Nacht bekannt. Doch 1935 erhielt sie, die Jüdin, Berufsverbot. 1938 ging sie mit ihrem zweiten Mann nach New York. Heimweh, Heimweh, Heimweh. Erst 1956 wird sie Deutschland wiedersehen. 1959 siedelt sie nach Israel, ihrem Mann zuliebe. Aber auch dort bleibt sie fremd: „Das Weh, es blieb. / Das „Heim“ ist fort.“ Nach dem Tod ihres Mannes wird es noch einsamer um sie: die „Seiltänzerin ohne Netz“ fällt ins Nichts.

Die Gedichte Mascha Kalékos kennt heute kaum noch jemand. Entdeckt man sie jedoch wieder, „ist man plötzlich süchtig.“ So ging es offenbar auch den vier Dresdner Musikerinnen von »Youkali«. Elena Schoychet, die Pianistin, entdeckte die Dichterin; nicht auszuschließen, sagen Tatjana Davis und Marie Hänsel im Gespräch, dass das im „Bücher’s Best“ war, einer der künstlerischen Basisstationen des Ensembles. Mit „sehr viel Intuition und Bauchgefühl“ setzt Tatjana die Zeilen in Musik. Die Klarinettistin schlägt eins der Gedichte auf, eine Melodie entspringt dem Text… Und dann ist auf einmal ein Lied da. Und wird von den vieren einstudiert. Arbeitsphasen mit dem Regisseur Nicola Bremer lassen daraus später ein neues Programm wachsen, „Seiltänzerin ohne Netz“. Im Oktober gingen sie eine Woche ins Studio, nahmen dreizehn Lieder auf. Der Zentralrat der Juden gibt einen Zuschuss für die Konzertreisen in verschiedene Synagogen Deutschlands; über eine Crowdfundingaktion sammeln die vier dieser Tage zusätzlich Geld ein, um ihr Debütalbum verwirklichen zu können. Und: am 30. Mai steht der Record Releasetermin im Kalender. In der St. Pauli Ruine werden die melancholischen Zeilen Mascha Kalékos erklingen. Und plötzlich ist man süchtig!


30. Mai 2019, 19 Uhr, St.-Pauli-Ruine
Youkali: Programmpremiere »Seiltänzerin ohne Netz« und Recordrelease

Gesang – Marie Hänsel
Klarinette, Percussion, Melodika, Piano, Gesang, Komposition – Tatjana Davis
Piano, Gesang – Elena Schoychet
Cello, Percussion, Gesang – Laura Härtel
Regie – Nicola Bremer