Vom „ganz großen Bahnhof“ hat der Dresdner Komponist Wilfried Krätzschmar vor einem halben Jahr gesprochen, als seiner fünften Sinfonie mehr als dreißig Jahre nach der Uraufführung der „Vierten“ viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Mitschnitt der allerersten Aufführung am Festspielhaus Hellerau durch den Deutschlandfunk, Komponistengespräche, Interviews, Blumenmeer, das ganze Besteck. Es ist ein großes Glück, dass das Werk danach nicht das allgemein übliche Schicksal von Auftragswerken ereilte, ein paar Tage nach dem ganzen Premierenzirkus still und leise in der Schublade zu verschwinden. Statt wie in Hellerau mit einem zeitgenössischen Solokonzert nun mit einem zugkräftigen Beethoven-Klavierkonzert gepaart, eröffnete Krätzschmars Sinfonie am Donnerstag die neue Konzertsaison der Elblandphilharmonie und traf hier erneut auf ein aufmerksames und zahlreiches Publikum.
Tatsächlich enthüllt das Werk beim Wiederhören als „Pirnaer Erstaufführung“ im Sonderkonzert in der Pirnaer Marienkirche einige wunderbare Details, die in der Uraufführungssituation – Radiomitschnitt, Nervosität vor dem argusohrigen Fachpublikum, Programmreihung nach einem ebenso fordernden Konzert etc. – nicht völlig zur Geltung kommen konnten. Etwa der Prolog der Sinfonie: Zwei Geigen umspielen sich da minutenlang solistisch, während der Rest des Orchesters auf seinen Einsatz wartet. Das geriet in der eher trockenen Hellerauer Akustik zu akademisch. In der Kirche nun nahmen sich die beiden Solistinnen Zeit, der melancholische Kirchenhall tat das Übrige: ein wunderbar schwebender Klang begann zu erblühen, und die Zeit schien völlig aufgehoben, während sich die beiden Tonspuren aneinanderrankten. Mit dem Orchestereinsatz spannte sich dann eine Landschaft in Cinemascope auf, in der in der folgenden knappen Stunde allerlei Begebenheiten und Zustände, Gefühle und Ahnungen geschildert sind, bis die Seele der Sologeige am Ende unters Kirchendach steigt und dann weiter, weiter…
Der Orchesterpart des nach der Pause folgenden Klavierkonzerts büßte wie im dritten, rasch dahingaloppierenden Satz der Sinfonie durch den langen Hall der Kirche etwas an Trennschärfe ein. Wie gut, dass mit Peter Rösel ein sichtlich und hörbar in sich ruhender Solist am Steinway saß, der das Konzert seit einem halben Jahrhundert in den Fingern hat und an den richtigen Stellen Akzente wie Bojen im Klangfluss setzte. Nachdem einige Holzbläser während des abschließenden Rondos anscheinend zum Rauchen vor die Kirche gegangen waren, versammelte Ekkehard Klemm sein Orchester am Ende doch vollzählig beim Doppelstrich – und darf ein weiteres Mal stolz sein auf seine Musikerinnen und Musiker, die sich in seiner Amtszeit deutlich hörbar weiterentwickelt haben und auch vor äußerst anspruchsvollem Repertoire nicht zurückschrecken. Die an interessanten Konzerten überreiche Elbland-Saison verspricht übrigens bereits Anfang Oktober, zum ersten regulären Philharmoniekonzert, dem Titel nach erneut „Unerhörtes“, nämlich die 1888 in Dresden unter Ernst von Schuch uraufgeführte Dritte Sinfonie des Geheimen königlich-sächsischen Hofrates Felix Draeseke – am selben Ort in Pirna, danach in Radebeul und Riesa.