Nach Rossinis Reise nach Reims nimmt sich die Semperoper in dieser Saison bereits die zweite Dresdner Erstaufführung der Saison vor: György Ligetis »Grand Macabre«. Intendant Peter Theiler hat sich offenbar vorgenommen, Neues zu wagen. Was die Regie angeht, setzt er in beiden Fällen auf Regisseure, die sich zuvor schon einmal an den Werken versucht hatten. Während Laura Scozzi das Konzept ihrer Nürnberger Inszenierung für die erste Premiere der Spielzeit gezielt weiterentwickelt hatte, entschließt sich Calixto Bieito für gänzlich neue Wege. Waren in seiner Freiburger Inszenierung noch Lack, Leder und aufblasbare Riesenpimmel prägend, nimmt er sich in Dresden für seine Verhältnisse auffallend zurück. Ein bisschen Kunstblut und Nutella auf halbnackten Körpern wirken fast wie ein Zitat aus alten wilden Zeiten.
Die szenische Umsetzung hat eher etwas von Warten auf Godot. Dieser Godot wäre dann bei Ligeti der Weltuntergang – aber dieser Weltuntergang wirkt nur wenig bedrohlich. Diese zurückgenommene Szene überlässt das Absurde und Orgiastische fast gänzlich der Musik. Da hupt, knallt und heult es im Orchester, dass es eine Freude ist zuzuhören! Die Kapelle ist famos vorbereitet und steht über den musikalischen und physischen Herausforderungen dieser virtuosen Partitur.
Vom Pult aus organisiert Omer Meir Wellber dies mit Verstand, und dreht sich dabei immer wieder um die eigene Achse, um den Raumklang zu realisieren. Der Chor singt vom zweiten Rang sinnfällig als Volk im Dialog mit der entleerten Führerfigur Prinz Go-Go, der auf der Bühne agil und stimmlich beeindruckend vom Countertenor Christopher Ainslie gegeben wird. Immer wieder öffnen sich die Türen in den Rängen, und Musiker spielen Einwürfe unterstützt von Assistenten, die sie einzählen. Und auch auf der Bühne stehen immer wieder Kapellmusiker im Frack. Diesem Einsatz gebührt Lob, und allein für diese dreidimensionale Hörerfahrung des Semperrundes lohnt sich der Besuch.
Zur Orchesterleistung gesellt sich eine formidable Sängerbesetzung, die keine Wünsche offen lässt. Hila Baggio betört als kaugummikauende Venus mit Schmelz. Gerhard Siegel rülpst sich genüsslich durch seine Partie als Piet vom Fass und schaltet mühelos in einen dem Weltenende gebührenden Schöngesang um. Die Wotan-erprobten Bassstimmen von Frode Olsen und Markus Marquardt überzeugen als Astradamors und Nekrotzar. Vorm Graben singen Aaron Pegram und Matthias Henneberg als weißer und schwarzer Minister in beeindruckender Textverständlichkeit und mit spitzer Ironie. Anfang und Ende der Oper rahmen Katerina von Bennigsen und Annelie Sophie Müller als paradigmatischer Liebespaar in wohligen Terzen und spielen bei Bieito als präpubertäres Mädchenpaar mit ihren Sandeimerchen in erotisch aufgeheizter Eindeutigkeit. Unmöglich, aus einem solchen Ensemble herauszustechen: doch Iris Vermillion als sadistisch spielfreudige Gattin Mescalina schafft es mit ihrem kunstvoll geführten Alt trotzdem. Sie lotet stimmlich und darstellerisch die Grenzbereiche aus und treibt es dabei in alle nur erdenklichen Extreme.
Ligetis Anti- und Meta-Oper galt einst als Skandal. In der Dresdner Premiere bleibt der Schock aus – und die einstigen Publikumsreaktionen werden einfach mitinszeniert. Chor und Statisten erregen sich stellvertretend im nicht ganz gefüllten Haus, aber nur wenige Premierengäste verlassen wirklich, fast entschuldigend, den Saal. Dass uns nun auch der einstige Skandalregisseur den Skandal verweigert, stimmt nachdenklich. Die Inszenierung ist handwerklich gut, allein, man fragt sich, was uns der einstige Skandal noch zu sagen hat. Warten auf Godot als Warten auf den Skandal von vorgestern? Was bleibt, ist eine überzeugende musikalische Interpretation dieses Klassikers der Nachkriegsmoderne, für die sich der Abend allemal lohnt.
Wieder am 7., 13., 26., 28. November.