Kann uns künstliche Intelligenz helfen, alte Gesangsaufnahmen zu restaurieren? Wer waren die Größen der böhmischen Schellackplattenindustrie? Und: in welcher Reihenfolge sollte ein Toningenieur die verschiedenen Arten von Kratz-, Knister- und Knackgeräuschen alter Platten in seinen Aufnahmen filtern, um dem Originalklang der Aufnahme möglichst nahezukommen? Diesen Fragen ging unlängst eine Fachkonferenz der in Wien beheimateten »Gesellschaft für historische Tonträger« nach, deren Mitglieder dafür eigens nach Dresden, in die SLUB – Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, gereist waren. Die SLUB ist institutionelles Mitglied der GHT und hält mit über 55000 Exemplaren eine der größten Schellackplatten-Sammlungen in öffentlicher Hand. Mit ihrer Digitalen Mediathek und in verschiedenen Projekten wie dem »Archiv der Stimmen« oder dem »Audiovisuellen Erbe in Sachsen« beschäftigt sie sich momentan verstärkt mit der Erhaltung, digitalen Archivierung und Bereitstellung von audiovisuellen Medien.
Fast logisch also, dass auf der Tagung auch eines der interessantesten Projekte, die momentan am Dresdner Haus durchgeführt werden, zur Sprache kam: Der SLUB-Toningenieur Nathanael Wendt digitalisiert seit ein paar Monaten achtzig Jahre alte Schellackplatten mit Einspielungen der Dresdner Philharmonie, die zum Teil aus dem Besitz des Dresdner Cellisten Daniel Thiele stammen. In seinem Konferenzvortrag berichtete Wendt von den Herausforderungen, die diese Arbeit mit sich bringt, und diskutierte mit den angereisten Experten fachliche Details.
Höhepunkt der Tagung war die Verleihung des renommierten Preises der deutschen Schallplattenkritik an eine Gruppe von Tonträger-Tüftlern, die die Kompilation »2000 Jahre Musik auf Schallplatte« digitalisiert, restauriert und, angereichert mit zahlreichen historischen Dokumenten und Erläuterungen, auf CD herausgebracht hat. Die einzigartige Sammlung von Klangbeispielen aus Kompositionen von der Antike bis zu Bach und Rameau hatte der Musikforscher Curt Sachs in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts konzipiert. Die kritische Neuherausgabe der Sachsschen Sammlung würdigte die Jury des Schallplattenpreises mit der Begründung, historische Schallplattenalben gehörten „zu den aufregenden musikhistorischen Zeugnissen, die uns nicht nur interpretationsgeschichtliche Einblicke gewähren, sondern auch Geschichtsbilder transportieren.“
Ein solches Geschichtsbild entsteht nun Puzzlestück für Puzzlestück auch in Dresden – durch die Sammlerleidenschaft und die fachliche Beratung von Daniel Thiele und das ingenieurtechnische Fingerspitzengefühl von Nathanael Wendt. Rechtzeitig zum 150jährigen Philharmonie-Jubiläum im nächsten Jahr soll die Digitalisierung der van-Kempen-Aufnahmen abgeschlossen sein. Den Projektfortschritt können geneigte Hörer übrigens online verfolgen: unter diesem Link können Interessierte bereits in über zweihundertfünfzig Digitalisaten stöbern und sich so einen Eindruck von den damaligen Interpretationen des Dresdner Orchesters machen.
Eine Textfassung des Artikels ist am 28. Dezember 2019 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.