„Wenn im Konzertsaal zwischen den Sätzen einer Sinfonie geklatscht wird, weiss man schon Bescheid. Da merken die Dresdner, dass viele Fremde in der Stadt sind.“ So beginnt ein Porträt der Musikstadt Dresden in der Neuen Zürcher Zeitung, gedruckt Anfang November 1995. Der Text kreist um das pochende Herz der Musikstadt, die Semperoper; er berichtet von »Rosenkavalier« und »Lohengrin«, streift Hofkirche, Schloss, Taschenberg-Palais und die Kreuzkirche. Erwähnt Schütz, Zelenka, Naumann, Weber. Kurz vor Schluss kommt der Autor in zwei Sätzen auch auf die Dresdner Philharmonie und ihr anstehendes Jubiläum zu sprechen – und verkennt dabei ganz offensichtlich die große Rolle, die das Orchester damals schon 125 Jahre lang für die Stadt spielte, und die die Dresdner Nachrichten am 19. Oktober 1907 so zusammengefasst hatten: „Der hohe Durchschnitt des Dresdner Musikgeschmacks und des Fortschrittsinns ist hauptsächlich dem Gewerbehausorchester zu danken; denn die Königliche Kapelle kann so intensiv in die Volkskreise nicht dringen.“
Vor fünfundzwanzig Jahren feierte das Orchester sein Jubiläum standesgemäß mit einem großen Festkonzert unter der Leitung des gerade frisch ernannten „Ehrendirigenten“ Kurt Masur. Vor Beethovens »Neunter« erklang »Puls, Farbe, Schatten« von Steffen Schleiermacher – übrigens nur „eins von vielen Auftragswerken, die im In- und Ausland zum Jubiläum bestellt wurden“ (Bonner Generalanzeiger v. 25.11.1995: „Der Klang bürgerlichen Selbstbewusstseins – 125 Jahre Dresdener Philharmonie“). Der Komponist hatte das Auftragswerk „den Dresdner Philharmonikern“ anlässlich des Jubiläums gewidmet und schickte dem Orchester im Programmheft „beste Grüße und Glückwünsche“. Zeitgleich erschien bei Edel Classics eine Jubiläums-CD »125 Jahre Dresdner Philharmonie«: der einstige Chefdirigent Carl Schuricht dirigierte Debussy, Mozart und Brahms.
Wer zwischen den Zeilen dieses Programmheftes von 1995 liest, stößt auf eine Lücke. Eine schmerzliche. Der ein Jahr zuvor ernannte Generalmusikdirektor des Orchesters blieb abwesend. Kein Grußwort, keine Glückwünsche. Michel Plasson, der dem Orchester seit 1992 verbunden gewesen war und den eine „wohlmeinende Erwartungshaltung des Orchesters wie des Publikums“ (Dieter Härtwig in der LVZ vom 2.10.2008) empfangen hatte, „hatte für den Aufbau einer näheren Beziehung zum Dresdner Institut, gar zu einer Identifikation mit demselben, zu wenig oder gar keine Zeit.“ Genau drei Jahre nach dem erwähnten Jubiläumskonzert kündigten ein ernüchtertes Orchester und ein entnervter Chefdirigent ihre Zusammenarbeit auf. Bernd Klempnow zitierte damals in der Sächsischen Zeitung ein Mitglied des Orchestervorstands: „Die Ehe ist nie vollzogen worden – Michel Plasson hatte zuwenig Zeit für Belange des Orchesters und Proben. Oftmals haben wir auf Tourneen, quasi zwischen den Konzerten, versucht, die Defizite auszugleichen.“ Und Kerstin Leiße gleichnisste in den Dresdner Neuesten Nachrichten: ein sonnenverwöhnter französische Weinstock hätte an einem Dresdner Weinberg gut gedeihen können – wenn er denn Wurzeln geschlagen hätte. Hat er aber nicht. Kein Happy End. Schlicht: „Gescheitert.“
Die „Trennung im Anstand“, die das Orchester 1998 anstrebte, fiel in eine insgesamt hochschwierige Zeit, in der die Musiker die Unterstützung eines starken Chefs hätten gut gebrauchen können. Wurden doch nach einem Vierteljahrhundert Ärger mit der Akustik des Kulturpalastes endlich konkrete Umbaupläne geschmiedet. Ein Saal „mit amphitheatralischer Umringung des Orchesterpodiums“ hatte die Gunst des Orchesters gefunden („Für die Musik“, Süddeutsche Zeitung v. 7.8.1995). „Zur Jahrtausendwende“, so die damaligen Planungen, „kann dann der Dirigentenstab zum ersten Takt erhoben werden.“
Und nun trudelte das Orchester führerlos durchs All! „Ein Orchester ohne Chefdirigent, das klingt oft so, wie ein verlassener Liebhaber sich fühlt“, schrieb Kai Luehrs-Kaiser ein Jahr nach eben jener Jahrtausendwende in der WELT. Und frohlockte: „Ein grausames Schicksal, das, wie es scheint, der Dresdner Philharmonie erspart geblieben ist. Seit Beginn dieses Jahres leitet der Dirigent Marek Janowski das Orchester“. Und Luehrs-Kaiser fügte gleich das ‚aber‘ an: „Janowski [hat] den Umbau des Kulturpalastes zur Bedingung seines Engagements gemacht. Bis 2006 (parallel zur Eröffnung der Frauenkirche) soll der bestehende Bau entkernt, der Saal von 2450 auf 2000 Plätze verkleinert werden.“ Wie die Geschichte weiterging, ist bekannt.
Das 125jährige Jubiläum 1995 jedenfalls reihte sich ein in eine lange Abfolge glückloser Jubeljahre, in denen dem Orchester überhaupt nicht zum Jubeln gewesen war. Das fing schon zum zwanzigjährigen Jubiläum an. Da bestimmten erste Auflösungstendenzen die junge Gewerbehauskapelle. Nach einigen erfolgreichen Konzertsaisons und einem großen politischen Skandal in einem Konzert mit Hans von Bülow waren viele Musiker 1890 zur sogenannten Belvedere-Kapelle übergelaufen, während die Stammbesetzung in diesem Jahr ein erstes Konzert als „Philharmonisches Orchester“ gab. Ab 1915 firmierte es offiziell als „Dresdner Philharmonisches Orchester“ (s. Abb. o.), und hätte 1920 sozusagen gleich doppelt Jubiläum feiern können: einmal fünf, einmal fünfzig Jahre. Aber ach: auch 1920 war kein gutes Jahr für die Philharmoniker. Im Oktober drohte – wieder einmal – die Auflösung, nachdem der Chefdirigent Edwin Lindner schon ein Jahr zuvor vor dem wirtschaftlichen Bankrott des Orchesters gewarnt hatte. „Die Situation des Philharmonischen Orchesters war […] katastrophaler denn je zuvor, der Fortbestand überhaupt ernstlich in Frage gestellt.“ (Härtwig, 63).
Den Dresdner Feuilleton-Teil der Sächsischen Volkszeitung beherrschten am 29. November 1920 drei Themen: die Annahme von Kriegsanleihen für das Reichsnotopfer, eine große Hilfsaktion für das ’notleidende deutsche Kind‘ und ein Protest der tschechischen Kolonie Dresdens „gegen die chauvinistische Hetze in der tschechoslowakischen Republik“. Die Dresdner Neuesten Nachrichten berichteten auf ihrer Titelseite groß über »Die Räumung der Krim«, brachten „erschütternde Schilderungen der Evakuierung“: „Simferopol und die Städte an der Meeresküste waren schon einige Tage vor Beginn des Abtransports mit Flüchtlingen und Deserteuren überfüllt…“ Vom Dresdner Orchesterjubiläum dagegen kein Wort in den Besprechungen der »Volkssinfoniekonzerte« und des dritten Philharmonischen Konzerts der Saison unter Lindner.
Auch die Feier zum 75jährigen Jubiläum fünfundzwanzig Jahre später fiel flach; war die Dresdner Philharmonie doch ein Jahr zuvor, am 30. September 1944, ersatzlos aufgelöst, das Gewerbehaus wenige Tage später von den ersten Bomben, die auf Dresden fielen, schwer getroffen worden. Während der ersten Tage des 1945 unter großen Entbehrungen neu gegründeten Klangkörpers wollte sich dann wohl auch niemand mehr auf die verblichenen Vorbilder berufen. Jetzt galt es, nach vorn zu schauen.
Ein einziges Jubiläum haben die Philharmoniker in ihrer 150jährigen Geschichte unbeschwert und richtig groß feiern können: nämlich das hundertjährige. Zehn Veranstaltungen zählte damals die Festwoche, zu der zahlreiche namhafte Gäste angereist waren, und in der die neue Jehmlich-Orgel des Kulturpalastes erstmals erklang. Eine Sonderseite der Sächsischen Zeitung versammelte die Grüße des Schwesternorchesters, der Staatskapelle Dresden, von Rudolf Mauersberger, Ernst Hermann Meyer und Karl Laux. Der überbrachte „Ihnen allen, vom Chef bis zum Notenwart, die allerherzlichsten Glückwünsche zu Ihrem Jubiläum, dem 100jährigen Bestehen der Dresdner Philarmonie [sic]„. Das große Festkonzert mit Beethovens »Neunter« am 29. November im neuen Kulturpalast leitete – wer sonst – Chefdirigent Kurt Masur. Vor der Pause spielte das Orchester (gerade von zwei großen Auslandstourneen nach Italien und durch die Sowjetunion heimgekehrt) ein Auftragswerk Johannes Paul Thilmans, die achtzehnminütige »Ode für großes Orchester«. Der SZ-Kritiker Werner Poike resümierte zum Abschluss der Festwoche: „Die Dresdner Philharmonie verfügt über einen Hörer- und Freundeskreis, der kaum in einer anderen Stadt zu finden sein dürfte. So bilden Künstler und Hörer eine beglückende Einheit, die in der Summe einen wichtigen Teil des Dresdner Musiklebens ausmacht.“
Diese Einheit ist auch fünfzig Jahre später zu spüren. Mitten in dieser großen, weltumspannenden Virusepidemie, die auch die geplanten Veranstaltungen der jüngsten philharmonischen Jubiläumswoche torpedierte, hält das Dresdner Publikum treu zu seiner Philharmonie. Es muss sich heuer mit einem Livestream begnügen.
Ein hundertjähriges Jubiläum – drei Jahre nach der 150?
Vielleicht, liebe Philharmonie, sind eure Jubiläen, die sich auf die Gründung der Gewerbehauskapelle beziehen, einfach verhext. Ich habe daher zum Abschluss einen Vorschlag. Vergessen wir doch die vielen ausgefallenen, verschobenen und zusammengekürzten Jubiläen. Blicken wir nach vorn, auf das Jahr 2023. Da jährt sich nämlich – dann unter Janowskis Nachfolger oder Nachfolgerin – die eigentliche Gründung einer neuen, stolzen Dresdner Philharmonie – nachdem die »Großen Philharmonischen Konzerte« des Vorgängerorchesters aus Geldmangel eingestellt worden waren und der Klangkörper in den Inflationswirren zu einem gerade einmal 24-köpfigen Häuflein zusammengeschmolzen war – genau zum einhundertsten Mal. Und Jubiläen kann man doch eigentlich gar nicht genug feiern, zumal hundertjährige! Weiter wären da bitte für die nächsten Jahre folgende Festkonzerte zu terminieren:
- 2024: 100 Jahre Genossenschaft »Dresdner Philharmonie EV«
- 2025: 100 Jahre Philharmonische Zykluskonzerte
- 2026: 100 Jahre »Große Gesellschafts-Konzerte« (u.a. mit Bruno Walter)
- 2027: 100 Jahre gedruckte Programmeinführungen (Kurt Kreiser)
- 2028: 100 Jahre Sonderkonzert Philharmonie & Staatskapelle
- 2029: 100 Jahre neue Orchesteraufstellung (Bratschen außen)
- 2030: 100 Jahre Carl Schuricht / Rudolf Mauersberger am Pult
- 2031: 100 Jahre „cheflose Zeit“ (zwischen Scheinpflug und Ladwig)
- 2032: 100 Jahre »Kuratorium Dresdner Philharmonie«
- 2033: 100 Jahre neues Anrechtssystem mit 16 Konzerten pro Spielzeit
- 2034: 100 Jahre Paul van Kempen
- 2035: 100 Jahre »Zeitgenössische Musiktage« und »Zwinger-Serenaden«
- 2036: 100 Jahre »Stiftung zur Förderung der Dresdner Philharmonie«
- 2037: 100 Jahre »Beethoven-Tage«
- 2038: 100 Jahre »Meister-Konzerte«
- 2039: 100 Jahre »Musik am Sonntagnachmittag«
usw.
„Das Philharmonische Orchester ist neuerstanden“, schrieb Paul Büttner, dessen 1. Sinfonie 1916 vom »Dresdner Philharmonischen Orchester« unter seinem Dirigat aus der Taufe gehoben worden war, 1923 in der Dresdner Volkszeitung. „Es trat gestern mit seinem Eröffnungskonzert in so ausgezeichneter Form, so mustergültig diszipliniert und spielfertig in die Öffentlichkeit, daß die verlautbarte, bedenkliche Frage, ob seine Wiedererweckung nicht am Ende ein Experiment sein werde, mit einem Schlage gegenstandslos geworden ist.“
Literatur:
Dieter Härtwig, „Die Dresdner Philharmonie. Eine Chronik des Orchesters 1870 bis 1970“. VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1970.
Karl Laux, „Glückwunsch dem Jubilar! – 100 Jahre Philharmonie“. Sächsische Zeitung v. 26. November 1970, S. 12
Zeitungsmeldungen von 1920, 1922 und die Programme der Dresdner Philharmonie abgerufen über sachsen.digital; Tageszeitungen 1970 recherchiert über das Microfichearchiv der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
Zeitungsmeldungen von 1995 über Genios