Der Typ mit dem Stoffbeutel kam den anderen Schülern meist suspekt vor. Während die meisten in einer Freistunde zum Café pilgerten, ging ich zum nicht weit entfernten Plattenladen und kam zumeist mit der einen oder anderen Eroberung zurück. Irgendwann fragte mein Englisch-Lehrer, was ich denn da für Platten hätte, und ich zeigte ihm den Schatz des Tages – Peter Tschaikowskys 1. Klavierkonzert in b-Moll mit Martha Argerich am Klavier. Ihr damaliger Ehemann Charles Dutoit war der Dirigent dieser Aufnahme. Zwei fast abgestorbene Bäume auf dem Cover der Deutschen Grammophon-Veröffentlichung von 1978 sollten wohl für die russische Tundra stehen. Das hinderte meinen Lehrer nicht daran, sich die Platte von mir auszuleihen – es dauerte Monate, bis ich sie endlich wieder in Händen hielt.
Live gehört hatte ich die Pianistin, die am heutigen Sonnabend achtzig Jahre alt wird, bis dahin noch nicht – ein Ohr hatte ich natürlich immer am Radio, wo ihre neuesten Aufnahmen vorgestellt wurden. Und bei dieser Schallplatte war es anders als bei den meisten, mit denen ich mein Klassikleben begann – normalerweise brannten sich die Töne ein, bis man vielleicht irgendwann reifer wurde und sich die Vorlieben änderten. Doch die Liebe zu Martha Argerichs Klavierspiel verschwand nie. Sie wurde mit jedem Hören neu genährt und beflügelt, so dass ich einige Jahre später schon beim Radioeinschalten sofort ihren weichen Anschlag, aber auch ihre plötzliche und konsequente Wildheit in einer forte-Passage identifizieren konnte.
Immer wieder wurde ihr der Begriff der „Löwin am Klavier“ zugeordnet, dabei dürften ihr eigentlich die in den letzten Jahren endlich wieder in Argentinien ausgewilderten Jaguare (Löwen gibt es auf dem südamerikanischen Kontinent gar nicht) in der optimierten Kraftnutzung und dem unvermuteten Beutesprung vermutlich viel näher sein. Bis heute ist Martha Argerich für mich der Inbegriff einer freiheitsliebenden Künstlerin, die ihr ganzes Dasein und Wirken ebenso kompromisslos wie liebevoll der Musik gewidmet hat. Solch ein Lebensweg schließt das Hervordringen des Menschlich-Persönlichen, damit auch die Verletzbarkeit und eine enorme Sensibilität ein. Wenn Argerich sich in den vergangenen 77 Jahren ihres pianistischen Lebens – ihren ersten Unterricht bekam sie mit drei Jahren – immer wieder einmal dazu entschieden hat, bestimmte Dinge nicht zu spielen oder in bestimmten Stimmungen nicht aufzutreten, so war dies sicher traurig für ihre stetig wachsende Anzahl an Fans. Aber wenn sie dann doch am Flügel saß und sich in die Stücke versenkte, bekam man immer Einmaliges geboten.
Ihre Tiefe der Auseinandersetzung mit der Klavierliteratur, von der sie einmal lapidar sagte „ich spiele nur, was ich mag“ ist einzigartig geblieben und auch in einem überschaubaren und zeitlich denkbar knappen Stück wie dem Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel hört man ihr auch bei der dritten Aufführung, die man miterlebt, gebannt zu, weil sie immer wieder Grundempfindungen und Bedürfnisse kitzelt – nach Freude, nach Beruhigung oder Aufwühlung. Am Ende steht Martha Argerich auf und schaut fast scheu ins Publikum. „Ihr seid noch da?“ sagt ihr Blick und man möchte sie fast umarmen, obwohl man eh schon mit zügellosem Applaus beschäftigt ist. Da ist sie aber schon längst von der Bühne verschwunden, meist geschützt von dem Dirigenten des Abends, der ihr auch während der Aufführung oft noch ein Lächeln herüberwerfen sollte, damit sie beruhigt weiterspielt.
Manchmal jedoch wartet man auf Martha Argerich vergebens, so bei ihrem zweiten Termin mit der Staatskapelle in Dresden im Jahr 2011, was dem Semperoper-Publikum allerdings das Debüt von Yuja Wang bescherte. 2015 plante ich bei einem Österreich-Besuch einige Tage Wien für einen Besuch im Musikverein ein. Doch auch hier war sie unpässlich, es war ein Kammermusikabend mit Mischa Maisky angekündigt – Soloabende gibt sie seit den 80er Jahren nicht mehr. Dennoch macht sich Martha Argerich keinesfalls so rar wie manch andere Pianisten, die so selten auf der Bühne erscheinen wie Konjunktionen am Planetenhimmel und damit zumeist ihren Nimbus erklären, weniger mit ihrem Spiel.
BLOODY DAUGHTER (2012) – ein Film von Stephanie Argerich von Intermezzo Films auf Vimeo.
Kann man die unglaubliche Wirkung, die ein Argerich-Konzert ausübt, eigentlich erklären? Martha Argerich hat eine Biografie, die auch bei mehrmaligem Lesen und Graben die Antworten schuldig bleibt und immer wieder deutlich auf die Musik zeigt. Nichts anderes gilt bei der Pianistin, von der Friedrich Gulda, der sie überhaupt als eine seiner wenigen Schülerinnen akzeptierte, alsbald sagte, dass er ihr nichts mehr beibringen könne. Was sie allerdings ihrem Publikum beibrachte, war ein ungläubiges Staunen und königinnenartige Verehrung, ausgelöst etwa durch das dämonische Hindurchbrausen im 3. Klavierkonzert von Sergej Prokofiev, einem ihrer Paradestücke, das ihr die Möglichkeiten gibt, alle Karten ihres Temperaments in einem Stück auszuspielen und dabei immer mühelos an den scharfen Kanten eines imaginären pianistischen Andengipfels entlang zu rasen.
1941 wurde sie im argentinischen Buenos Aires geboren – mit 16 gewann sie ihre ersten Wettbewerbe in Bozen und Genf, dann folgte der Sieg beim berühmten Chopin-Wettbewerb in Warschau 1965. „La Martha“ war fortan ein Weltstar, wenngleich sie sich auch immer wieder phasenweise, oft auch über längere Zeiträume zurückzog, mit Freunden und Familie ein nomadenhaftes, oft unstetes Leben führte. Der von ihrer Tochter Stéphanie gedrehte Film „Bloody Daughter“ erzählt in einfühlsamen Bildtönen davon, welchen Platz Musik, Familie und Freunde in Martha Argerichs Leben einnehmen und am schönsten ist dieser Film, wenn ihr selbst die Worte dazu versagen: „Als ich mit dir schwanger war, habe ich vielleicht ein bisschen so gespielt“ (zeigt nach links), „und sonst eher so“ (zeigt geradeaus). Ab den 80er-Jahren hat sich ihr Spiel viel mehr vom Solo auf Konzerte und Kammermusik konzentriert, und ihre Lust auf musikalische Kommunikation brachte schließlich ein eigenes Festival, das »Progetto Martha Argerich« in Lugano hervor, auf dem sie über fünfzehn Jahren mit unzähligen Kolleginnen und Kollegen nicht nur die Musik feierte, sondern sich auch – und nicht nur dort – für den Nachwuchs engagierte, und immer wieder mit jungen Talenten vierhändig oder in anderen Formationen konzertierte, Meisterklassen gab und Mentorin für mittlerweile in der Klassikwelt gefeierte Künstlerinnen wie Gabriela Montero oder Sophie Pacini wurde.
Dass ihr Spiel im Laufe der Jahre milder oder gar anders geworden ist, lässt sich kaum sagen. Argerich ist sich selbst treu geblieben, und das schließt natürlich auch in Nuancen immer wieder neue klangliche Bereiche ein, die sie sich etwa im von ihr gern gespielten Schumann-Klavierkonzert erschließt, das sie erst 2019 mit den jungen Musikerinnen und Musikern der Mannheimer Philharmoniker aufgeführt hat. Ihr letzter Auftritt in Dresden war ein gefeierter Duo-Abend im Kulturpalast 2018, gemeinsam mit ihrer Klavierpartnerin und Freundin Lilya Zilberstein. Solche musikalisch innigen Freundschaften pflegt Martha Argerich über Jahrzehnte. So entstehen auch immer wieder fantastische Aufnahmen ihrer Kunst etwa gemeinsam mit Gidon Kremer, Mischa Maisky, Daniel Barenboim oder jüngst auch wieder mit Seiji Ozawa, den eine schwere Krankheit lange vom Dirigentenpult ferngehalten hatte. Ihr eigenes Festival hat mittlerweile in Hamburg eine neue Heimat gefunden. Dieses Jahr wird es – voraussichtlich auch mit Publikum – vom 19. bis 30. Juni stattfinden, und Martha Argerich schenkt sich selbst zum Geburtstag ganze 12 Konzerte. Ein Treffen mit Freunden wird das, mehr noch: es wird das, was Argerich unausgesprochen so bezaubernd macht. Jede ihrer tiefgehenden Darbietungen ist eine Liebeserklärung an die Musik, nicht mehr und nicht weniger.
Titelfoto: Xenix Filmdistribution GmbH, »Bloody Daughter« (2012)