Hat man in Graz zunächst die Zeit an der allgegenwärtigen Schlossuhr überprüft, stellt man fest, sie tickt eigentlich wie überall, doch ist man sich in Graz der Bedeutung der Zeitläufte vielleicht bewusster als anderswo – alte, neue und neueste Architektur grüßt in der Steiermark manchmal still vereint, manchmal laut kontrastierend, und man weiß aber ohnehin, dass zwei Schritte weiter ein lauschiger Markt oder ein Park erreichbar ist, während die Mur trotzig beschlossen hat, einige Meter unterhalb der Stadt ihr eigenes Tempo zu rauschen. Mich führt gleich aus mehreren Gründen der Weg in die südliche Altstadt, zur Grazer Oper, deren neobarockes Portal am Opernring fast unauffälliger ist als die Rückseite, die auf den quirligen Markt am Kaiser-Josef-Platz hinausgeht. Denn nicht nur die designierte Intendantin der Dresdner Semperoper Nora Schmid ist hier – als geschäftsführende Intendantin übrigens – seit 2015 tätig, seit einem Jahr versieht auch der in Dresden aufgewachsene Dirigent Roland Kluttig das Chefdirigentenamt bei den Grazer Philharmonikern, die an dem Mehrspartenhaus seit 70 Jahren für die richtigen Töne im Graben und an diesem besonderen Tag auch auf der Bühne sorgen.
Später, im Gespräch mit Nora Schmid, erfahre ich von weiteren Verbindungen zwischen beiden Opernhäusern – sollten sich die Steiermark und Sachsen näher sein als gedacht? Immerhin gibt es ja auch seit wenigen Jahren wieder die durchgehende Zugverbindung mit dem zu DDR-Zeiten bereits verkehrenden „Vindobona“, der nun als Railjet unterwegs ist. Der hat maximal den einen Nachteil, das er auch in den Musikmetropolen Prag und Wien hält, man also sorgfältig seine musikalischen Touren ins wunderbare Land der Käferbohnen und Kernöle planen sollte. Doch die halbszenische Aufführung von William Shakespeares „Sturm“ mit der Bühnenmusik von Jean Sibelius (!) kann man eben nur an der Grazer Oper erleben – und siehe da, mit Sebastian Wendelin wirkt auch prompt ein ehemaliger Schauspieler des Staatsschauspiel-Ensembles mit, dazu, ebenso großartig in alle Rollen des Schauspiels schlüpfend, Anne Bennent und Markus Meyer. Und hier ist das Ergebnis nichts Zusammengestrichen-bearbeitetes, sondern vor allem Bekenntnis zu Sibelius‘ großartiger Musik, die 1925/26 als eines seiner letzten Werke überhaupt entstand.
Und auch die konzertante Aufführung, so Nora Schmid, ist eine Konstante im abwechslungsreichen Spielplan der Oper, eine Darstellungsform, die für bestimmte Stücke besonders geeignet ist und an diesem Abend durch die drei kongenial spielenden Schauspieler und dem mit einer Hauptrolle bedachten Orchester zu einem berührenden Theatererlebnis und großem Applaus beim Publikum führt, das schon längere Zeit wieder das Haus freudig im Schachbrettmuster und 3-G-Verfahren wie derzeit überall in Österreich einnimmt.
„Wir haben quasi durchgespielt“ sagt Nora Schmid gleich zu Beginn des Gesprächs, in welchem ein Themenbereich natürlich nicht berührt werden kann: der der berühmten ungelegten Eier. Denn obwohl natürlich intern lange vorgeplant wird, sind es noch drei volle Spielzeiten bis zu Schmids Amtsantritt in Dresden, da dürfen wir also gespannt bleiben, was aus diesen Eiern schlüpfen wird…
In Graz, das wird im Gespräch schnell deutlich, führt Nora Schmid führt ihren Beruf mit der ihr eigenen großen Leidenschaft für die Oper aus – stolz verwies sie auf das gerade der Öffentlichkeit präsentierte kommende Saisonprogramm 2021/2022 am Haus, verbunden mit der Hoffnung, dass die virusbedingten Einschränkungen sich nun mehr und mehr reduzieren mögen. Von November bis Mai ruhte der Betrieb mit Publikum, nun spielen wieder alle, auf, neben und unter der Bühne – getestet wird derzeit alle 48 Stunden. In der ’stillen‘ Zeit wurde Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ – eine eigene, hochgelobte Produktion der Oper Graz unter Regie von Nadja Loschky – in Bild und Ton eingespielt und es wurde natürlich weiter probiert und studiert. Für das aufrichtig die Oper vermissende Publikum gab es Streamkonzerte und sogar ein Wunschkonzert mit Interaktion von zu Hause. Auch am Wechsel der Intendantin nach Dresden nimmt das Grazer Publikum Anteil, und drückt interessanterweise nicht nur Traurigkeit aus. Die Grazer sind auch stolz auf ihr in die Welt ausstrahlendes Opernhaus (nach der Wiener Staatsoper übrigens das zweitgrößte Österreichs), auf das durch namhafte Regisseur:innen oder Dirigent:innen – wie etwa zuletzt Oksana Lyniv – immer wieder die internationalen Augen von Presse, Agenten und natürlich auch Publikum gerichtet sind. Nora Schmid sieht indes den oft zitierten Begriff Sprungbrett zu kurz gegriffen dafür, denn zuvor steht immer ein gutes, freies Arbeiten am Haus, was sie auch immer wieder von den Künstler:innen bestätigt bekommt. Dazu gehört für sie ein offenes Kommunizieren und eine konstruktiv gelebte Kritik. Ihre eigene Aufgabe, so Schmid, sähe sie demnach auch darin, ein Klima, einen Humus zu schaffen, wo Kunst gut gedeihen kann. Schmid legt Wert auf die Inhalte und Geschichten, zuoberst natürlich auf die Musik: „Wenn wir etwas machen und spielen, das emotional gar nichts in mir auslöst, das wäre ja ein vertaner Abend.“
Also schaffe man in Graz vor allem mit Menschen für Menschen Oper – ein Credo, das offenbar auch im Betriebsalltag verinnerlicht scheint, denn sogar der Pförtner am Bühneneingang verabschiedet mich so herzlich, dass ich am liebsten am nächsten Tag gleich wieder vorbeischauen möchte, bloß weil ich diese Begegnung noch einmal erleben möchte. Dass nach Corona das Publikum auch wieder zur Oper findet, bezweifelt Schmid eher nicht und sieht ein großes, abwechslungsreiches Repertoire als Chance. Auch an der Semperoper gebe es nicht nur ein Publikum, das Bestimmtes verlange, sondern sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Die reichhaltige Musik- und Rezeptionsgeschichte erlaubt, dass man an der Semperoper viel mehr machen kann und sollte als nur Strauss und Wagner. In Dresden, so Nora Schmid, baue sie auf starken gegebenen künstlerischen Linien auf, gerade das sei ja spannend für das Neue, das hinzugefügt wird. Trotzdem bleibe das starke Bewusstsein für die Geschichte, für das was war, und daran entzünde sich das Neue.
Der Leuchtturm alleine, so Schmid, sei eher nur eine Behauptung, man müsse die Identifikation vor Ort auch leben und ständig neu beleben. „Jeder kennt ja die Semperoper und sie ist auch in der Stadt eine Markierung, aber ist das Bewundern und Bestaunen denn ausreichend? Mir ist viel lieber, reinzugehen und etwas Einzigartiges zu erleben. Natürlich ist Musiktheater eine äußerst komplexe, aber auch sehr sinnliche Kunstform. Und vor allem ist Oper ein Gemeinschaftserlebnis“, bekennt Schmid im Gespräch. Auf die künftige Zusammenarbeit mit der Dresdner Staatskapelle hin befragt, beschreibt Schmid offen ihre Freude, mit diesem Weltklasseorchester zusammenarbeiten zu dürfen, das Abend für Abend in Ballett, Oper, Konzert so eine enorme Qualität schaffe. Das könne nur in einem guten Dialog geschehen, so Schmid. Ob Chefdirigent:in oder Generalmusikdirektor:in die Semperoper leiten werden, sei eher eine vertragliche Sache; es sei wichtig, dass es eine große Affinität und Erfahrung derjenigen Persönlichkeit zur Oper gäbe, diese somit auch im Spielplan der Oper natürlich präsent ist.
Mit der Entscheidung für Nora Schmid als Intendantin der Semperoper ab dem Jahr 2024 hat das Ministerium in Sachsen bewusst und in öffentlicher Bekundung auch eine Weiche für die Zukunft gestellt. Auch der Intendantenberuf hat sich ja in den letzten Jahren mit den Erfordernissen der Zeit gewandelt, in den meisten deutschen Häusern gibt es derzeit eine Doppelspitze aus Geschäftsführung und Intendanz. Die Zeiten eines unbekannten Impresarios, der im Hintergrund die Fäden zieht, sind allerdings vorbei und Nora Schmid sieht dies auch als natürliche Generationsfrage und Wandlung der Gesellschaft, auf den auch solche Berufe reagieren – sie bringe ja auch Fragen ihrer Generation und somit ihre Lebenserfahrung mit ein. Verändert habe sich indes, dass auch von den Trägern und Unterstützern genauer hingeschaut wird.
Und doch, so Nora Schmid, bestünde das Wesen ihrer Aufgabe immer im Anvertrauen des Hauses, das über die Subventionen eben vielen gehöre. Das, so Schmid, sei das Fundament, und selbstverständlich gebe es auch eine Sorgfaltspflicht, die zu erfüllen sei. „Als ich damals Intendantin hier in Graz geworden bin, fragte mich jemand: ‚Na, ist das nicht ein tolles Gefühl, hier entlangzugehen und zu denken, alles meins?‘ Nein, genau das ist es nicht. Die Oper gehört mir nicht, sie gehört allen.“ Dennoch hat Nora Schmid als Intendantin die verantwortlichen Entscheidungen zu treffen, ist sich aber des fließenden Prozesses, den Kunst als subjektiver Vorgang immer durchlaufe, bewusst. Das gilt auch für die Musik der Gegenwart, die in Graz über die Musikhochschule und die Festivalaktivitäten etwa beim Steirischen Herbst allein schon einen besonderen Stellenwert hat. Hier reiht sich die Oper selbstverständlich ein, aber Nora Schmid betont, dass man tiefer gehen sollte, als die neuen Dinge bloß aufzuführen.
So wird Georg Friedrich Haas Oper „Morgen und Abend“ gleich neunmal in der kommenden Saison als österreichische Erstaufführung gegeben, was schon allein Interessierten Gelegenheit bietet, die außergewöhnliche Musik auch mehrfach zu hören. Auch für Operette und Musical hat Schmid ein besonderes Faible – ihre Augen blitzen, als sie von den Grazer Schatzhebungen (Joseph Beers „Polnische Hochzeit“ !) berichtet. Obwohl sie natürlich respektvoll die Dresdner Staatsoperette erwähnt, wird es ja durchaus auch einmal auf der Semperopernbühne schwungvoll zugehen. Ein starkes eigenes Sänger- und Produzierendensemble gehört für Nora Schmid am jetzigen wie am künftigen Haus unbedingt zur Identifikationsbildung dazu, denn genau deswegen sollen die Opernfreunde ja auch nach Dresden kommen, und nicht (nur) wegen der Koproduktionen, die es woanders auch zu sehen gibt. Und am schönsten sei es ja auch, wenn große, großartige Sängerinnen und Sänger aus dem Ensemble herauswachsen, Persönlichkeiten wie etwa Evelyn Herlitzius, Camilla Nylund oder Georg Zeppenfeld stehen ja auch für die hochrangige Qualität der Arbeit in Dresden.
Zum Schluss bitte ich Nora Schmid noch um eine Einschätzung, wie wir Kultur künftig, nach oder im Ausklang der Pandemie erleben werden, erleben wollen. „Angst ist immer der schlechteste Ratgeber“, meint sie, daraus entstehe kaum je was Positives. Eine Rückkehr zum Gewohnten sei aber aufgrund der Länge der Zäsur auch illusorisch, wir als Gesellschaft seien zwar in hoher Geschwindigkeit anpassungsfähig, aber die Erfahrungen dieser Zeit werden wir mitnehmen. Vielleicht, so Schmid, haben wir auch für unsere täglichen Dinge eine andere Wertschätzung bekommen, vieles ist eben nicht selbstverständlich und bedarf auch einer besonderen Anstrengung und eines Bewusstseins. Wenn man dann wieder an der Seitenbühne steht und gebannt zuhört, wie wunderschön eine Arie gesungen wird, dafür ist man doch genau an diesem Platz. Ich stimme zu.