Die Königstochter Aida und Radamès, der ägyptische Feldherr, versichern sich gerade im Duett ihre Liebe, da wird das Publikum der Deutschen Oper jäh aus seinen Schwärmereien gerissen. Giuseppe Sinopoli ist vom Pult gestürzt. Die Musiker rufen um Hilfe; Ärzte versuchen noch, den Dirigenten wiederzubeleben. Umsonst. Aus. Zwanzig Jahre ist das her.
Giuseppe Sinopolis Begabungen hätten für viele Leben und viele Karrieren gereicht. Mit sechsundzwanzig schloss er sein Medizinstudium mit einer Promotion in Kriminalanthropologie ab. Er interessierte sich für Philosophie wie für Physiologie. Während er die Staatskapelle Dresden im Oktober 2000 zum Beethoven-Fest in Bonn dirigierte, zeigte das Bonner Akademische Kunstmuseum eine Sonderausstellung mit griechischen Kunstwerken aus seiner ständig wachsenden Privatsammlung, darunter mehrere prachtvolle Kratḗre: Gefäße, in denen Wein und Wasser gemischt wurden. Auch die Archäologie hatte es Sinopoli angetan; seine Doktorarbeit war eingereicht. Zwei Tage nach seinem Tod war die Verteidigung angesetzt gewesen.
Und natürlich die Musik. In den siebziger Jahren reüssierte Sinopoli als Komponist, studierte nebenbei in Wien Dirigieren bei Hans Swarowsky und begann seine Karriere als Operndirigent 1978 in Venedig – mit »Aida«. Seine oft exzentrischen Interpretationen waren umstritten. Kritiker bemängelten die bleiernen Tempi, die der Dirigent manchmal wählte, weil er die Werke intellektuell zu durchdringen suchte und sich manchmal in kleinsten Details erging, wo die Kollegen mit dem großen Pinsel malen. Noch 2001, als Sinopoli, als Dirigent längst etabliert und vom Repertoire her auf das späte neunzehnte Jahrhundert, auf Mahler, Strauss und die zweite Wiener Schule eingespielt, mit der Staatskapelle durch die Vereinigten Staaten tourte, schrieb ein Kritiker über eine New Yorker Aufführung, die Staatskapelle sei „ein ausgezeichnetes Werkzeug in den Händen eines gefährlichen Mannes“. Dieser Mann hatte zuvor in Bayreuth Buhgewitter überstehen müssen! Zu ziseliert und detailverliebt sein »Ring«-Dirigat, vieles zerdehnt, zu langsam… Im selben Sommer heimste Sinopolis ehemaliger Assistent und Korrepetitor Christian Thielemann am Grünen Hügel erstmals triumphale Erfolge ein. „Der junge Siegfried“ – 41 Jahre alt war Thielemann bei seinem Bayreuth-Debüt – beglückte mit den »Meistersingern« und galt fortan als der Wagner-Dirigent seiner Generation.
Und in Dresden, wo Sinopoli nach einer gescheiterten Beziehung zur Deutschen Oper eine Heimat gefunden hatte? Da begann man den Dirigenten, der acht Jahre früher einen eher verhaltenen Start hingelegt hatte, bald hoffnungsvoll als intelligenten Erneuerer des Orchesters zu verehren. Sein feiner, durchdachter Zugang zu den Werken vertiefte den Respekt, den die Musiker ihm entgegenbrachten – unter ihnen der junge Jan Vogler, seit 1984 Cello-Konzertmeister. Aber Sinopoli fand auch einen zutiefst menschlichen Zugang zu „seinem“ Orchester, so dass die Musiker schließlich abstimmten: ihn, Sinopoli, wollten sie ab 2003 gern als ihren Generalmusikdirektor haben.
Am ersten Weihnachtsfeiertag im Jahr 2000 dann ein historischer Augenblick: das ZDF sendete »Festliche Klänge aus Dresden«. Aufgezeichnet hatte sie der Sender einige Tage früher im Hauptraum der Frauenkirche. Noch fehlten dort Kanzel und Altar; aber die feierlichen Klänge, die um die Baugerüste wehten, ließen viel erwarten. Sinopoli war berührt. Er wollte diesen symbolisch aufgeladenen Ort als Musizierstätte etablieren helfen und widmete das darauffolgende Gedenkkonzert zum 13. Februar dem Wiederaufbau des Gotteshauses, das August der Starke einst nach dem Vorbild der Santa Maria della Salute in Auftrag gegeben hatte – jener Kirche, in der Sinopoli im November 1979 seine Hochzeit mit Silvia Cappellini gefeiert hatte.
Ich habe mich dieser Tage gefragt, wie Giuseppe Sinopoli, der am 2. November 2021 seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte (sicherlich doch mit seinem Dresdner Orchester?), wohl heute auf die Volten des Dresdner Musiklebens schauen würde. Er, der schon 1991 angekündigt hatte, die Musik irgendwann zugunsten anderer Interessen und Neigungen (der Schriftstellerei, vor allem aber der Archäologie) in die zweite Reihe treten zu lassen: hätte er sich verärgert oder ernüchtert gezeigt über die Ankündigung, dass der Vertrag von Christian Thielemann beim Orchester nicht verlängert werden würde? Hätte er vielleicht, braungebrannt zurückgekehrt von seinen letzten Grabungen in der Türkei oder in Syrien, den Dresdner Neuesten Nachrichten ein Geburtstagsinterview gegeben? Die Intendantenkünste seines einstigen Solocellisten Vogler bei den Dresdner Musikfestspielen und dem Moritzburg-Festival gepriesen? Und am Ende vielleicht noch einmal den Satz wiederholt, den er ein Vierteljahrhundert früher in einem Filmausschnitt sagt, und der dresdnerischer wohl kaum sein könnte: „Ich habe immer die Vergangenheit geliebt“.
Übrigens wollte Giuseppe Sinopoli bei seinem detailverliebten Blick auf das Vergangene, auf kulturelle Erbschaften und musikalische Vermächtnisse nicht als Traditionalist missverstanden werden. „Tradition besteht nicht darin, etwas zu wiederholen, was schon einmal gemacht worden ist. Tradition heißt für mich, die innige Möglichkeit zu haben und zu nutzen, die Vergangenheit zu verarbeiten, sie mit der Gegenwart zu konfrontieren und weiterzuführen in eine utopische Zukunft. Alles andere ist Konservativismus.“ Nimm dir’s zu Herzen, Dresden.
Literatur:
Ulrich Amling und Jörg Königsdorf. Giuseppe Sinopoli: Der Traum des Analytikers. Tagesspiegel v. 22.4.2001, S. 25.
Matthias Herrmann. Giuseppe Sinopoli und Dresden. Sax, 2021.
Ulrike Kienzle. Giuseppe Sinopoli. Komponist – Dirigent – Archäologe. Königshausen & Neumann, 2011.
Meisterwerke griechischer Keramik – Aus der Sammlung Giuseppe Sinopoli. Ausstellungskatalog, Akademisches Kunstmuseum Bonn. Philipp von Zabern, 2000.