Nach der jüngsten Semperoper-Premiere von Puccinis »Madama Butterfly« blieb unser Rezensent ratlos zurück. Die Koproduktion mit Tokio, Kopenhagen und San Francisco verheddert sich in rastlos rasenden Vorhängen und in einem unklaren Verständnis postkolonialer Debatten.
Im calvinistisch geprägten Amerika nennt man einen Genuss, der gegen die Vernunft verstößt, guilty pleasure. Darunter fällt das verführerische, dafür aber ungesunde Stück Schokolade genauso wie der Film, den man leidenschaftlich konsumiert, aber für den man sich auch ein bisschen schämt. Indem man sich öffentlich zu seiner geschmacklosen Vorliebe oder der zugehörigen schuldbehafteten Lust bekennt, kommuniziert man paradoxerweise die eigene Geschmackssicherheit und zugleich eine Spur individueller Großzügigkeit.
Schuld und Scham gehören bekanntlich zum affektiven Kernbestand des Dramas und der Oper. In der klassischen Tragödie ist es laut Aristoteles die ἁμαρτία, das Fehlverhalten des Helden, das ihn – oder seltener sie – ins Unglück stürzen lässt. In der Oper, insbesondere bei Puccini, sind es meist die Frauen, die dieses Schicksal ereilt. Man denke nur an Toscas Fall von der Engelsburg oder an Madama Butterflys Freitod. Doch ist es ihr Fehltritt, der die Tragödie in Gang setzt? Einiges spricht dafür, dass sich in Madama Butterfly Pinkerton wissend schuldig macht, wenn er im ersten Akt eine Ehe nach japanischen Recht eingeht und Madama B. in dem Glauben lässt, sie heirateten als gleichberechtigter Partner nach amerikanischem Recht. Man verkennt leicht den dramentheoretischen Schnitt, den Puccini mit seinen beiden Librettisten hier unternimmt. Madama Butterfly ist Anti-Drama und Anti-Oper zugleich. Anti-Drama, weil Madame Pinkerton nicht Opfer ihres eigenen Fehlers wird. Anti-Oper, weil sich der Konflikt nicht wie in der opera seria dank eines Deus ex machina in Wohlgefallen auflöst.
Puccinis »Madama« ordnet sich freilich auch in eine andere Tradition ein. Im 19. Jahrhundert erfreute sich die Gattung der Theatermelodramen großer Beliebtheit. Auf deutschen Bühnen gern als Sittenbild oder Schicksalsdrama bezeichnet, scheute man in diesen Spektakelstücken keinen bühnentechnischen Aufwand. Anachronistisch wäre hier die Bezeichnung guilty pleasure wohl angebracht. Diese Sensationsstücke waren für den Massenmarkt konzipiert und unterliefen dabei die Ständeklausel der hohen Tragödie. Bei Puccini haben wir beides. Zum einen war der Italiener der ökonomisch erfolgreichste Komponist, den die Oper je gesehen hat, zum anderen durchkreuzt Madama Butterfly das moderne Äquivalent zur Ständeklausel. 日本人女性が大胆にもアメリカ人と結婚するのだ。 – eine Japanerin wagt es, einen Amerikaner zu heiraten!
Und damit sind wir beim Kern des Problems. In dieser Ständeklausel steckt viel Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus. Um 1900 wurde auf beiden Seiten des Atlantiks ein rhetorischer Kulturkampf geführt, bei dem unter dem Stichwort yellow peril ein xenophobes Horrorszenario entworfen wurde, in dem die weiße Rasse durch eine als unterentwickelt dargestellte asiatische Masse in ihrer Existenz bedroht werde. Der Vordenker der Gestaltpsychologie, Christian von Ehrenfels, verband dies beispielsweise mit einer kruden sozialdarwinistischen Theorie und plädierte dafür, im „Westen“ eine vom Staat kontrollierte Polygamie einzuführen, in der wenigen „starken“ Männer mehrere Frauen als Mütter ihrer Kinder zur Verfügung stehen müssten, um der imaginierten asiatischen „Menschenmasse“ etwas entgegen setzen zu können.
An diesen hier nur skizzierten historischen Konstellationen liegt es, dass sich ein leises Unbehagen an den orientalistischen Sujets des Opernrepertoires regt. Wenn man die Oper als Kunstform ernst nimmt, sollte man auch die Bedenken, wie sie etwa Miki Kaneda oder Katherine Hu äußern, ernst nehmen und sich nicht hinter Scheinargumenten – das war einfach eine andere Zeit – verstecken. Man kann auch nicht handstreichartig die dekorativen Chinoiserien oder Japonismen um 1900 von der brutalen Geschichte des Kolonialismus freisprechen. Beides ist blutig miteinander verknüpft.
Manch einer mag nun denken, solche Einwände könne man in Dresden weiterhin ignorieren. Amerika und seine diskursive Aufarbeitung des historischen Rassismus sind fern. Die Semperoper, vielleicht auch weil die Neuproduktion in Zusammenarbeit mit Tokio, Kopenhagen und San Francisco entsteht, scheint sich der Problematik jedoch bewusst zu sein. Hat sie doch mit Amon Miyamoto einen in Japan äußerst erfolgreichen Regisseur gebeten, in Kostümen des japanisch-französischen Modestars Kenzou Takada seine eigene Sicht auf die Oper zu entwickeln. Das Haus nennt dies selbst bezeichnenderweise in der Vorankündigung einen “östlichen Blick”.
Lizenz zum Japanklischee
Miyamoto inszeniert »Madama Butterfly« als Traumbild des in der Oper als stumme Requisite behandelten Kindes. Im Prolog steht ein in der prepster-Uniform amerikanischer Elitecolleges gekleideter junger Mann am Sterbebett seines Vaters Benjamin Franklin Pinkerton. Der Vater überreicht dem Sohn einen Brief, der wohl die Umstände der Zeugung und die Schuld des Vaters am Tod der Mutter erhellen soll. Der Sohn begleitet uns für den Rest des Abends als stummer Zeuge oder als erzählende Instanz. Wir sehen ihn beim Erinnern seiner frühen Kindheit zu. Wir sehen, wie er seine alte Heimat vor dem inneren Auge wiedersieht. Wir sehen, wie er seine hübsche Mutter und seinen jugendlichen Vater idealisiert. Wir sehen, wie er sein junges alter Ego beschützen möchte und doch nicht kann.
Theoretisch sollte eine solche Beobachtung zweiter Ordnung für Distanz und Erkenntnisgewinn prädestiniert sein. Das Ergebnis auf der Bühne ist jedoch ein gänzlich anderes. Die hinzuerfundene Rahmenhandlung wird zu einer bloßen Lizenz, bekannte Japan- und Opernklischees massentauglich zu reproduzieren. Der Chor singt in bonbonfarbenen Kimonos, kitschige Kirschblüten und Bambuswälder werden an die Rückwand projiziert, Christa Mayer muss als Suzuki schrecklich devot über die Bühne huschen. Die westlichen Kostüme scheinen aus einer Westend-Produktion von Mary Poppins entliehen. Und dann sind da noch diese entsetzlichen Vorhänge und ein selbstfahrender hölzerner Pavillon, die rastlos Verwandlungen bewerkstelligen und wohl Traumwelt und Imagination vorgaukeln sollen. In der Realität erinnern sie eher an eine Musical-Inszenierung.
Miyamoto rettet sich in eine kindliche Traumwelt und will in »Madama Butterfly« eine große Liebesgeschichte hören. Vielleicht ähnlich wie der Sohn, der sich nach einer heilen Erinnerung sehnt. Es ist nie zu spät für eine schöne Kindheit! Der Vater erhebt sich also von seinem Sterbebett und läuft Cio-Cio, die entrückt in ihrem Hochzeitskleid im Bühnenhintergrund erscheint, entgegen. Es ist nie zu spät für Reue! Und so nimmt Miyamotos Inszenierung sowohl Anti-Drama als auch Anti-Oper zurück. Es ist nie zu spät für eine schöne Oper! Ob dies allerdings als guilty pleasure durchgeht, wage ich zu bezweifeln. Zu hoch sind die Kosten, zu groß die blinden Flecken.
Es ist bedauerlich oder vielleicht auch konsequent, dass Puccinis Musik bei diesen szenischen Gegebenheiten nicht zur guilty pleasure taugen will. Omer Meir Wellber musiziert brilliant mit der Staatskapelle. Das Sängerensemble ist überragend. Gabriele Viviani singt einen psychologisch differenzierten Konsul auf internationalem Niveau. Christa Mayer gelingt es beispielsweise im dritten Akt, in nur wenigen Takten die ganze emotionale Tragweite des Verrats aufscheinen zu lassen. Aber manchmal ist es eben einfach zu spät für Genuss trotz Schuld.
Nächste Vorstellungen: 14., 18. April; 1., 6., 15. Mai; 18., 24. Juni 2022