Der in Dresden ausgebildete Tänzer Andreas Heise hat einst in Graz mit dem Ballett »Der Sandmann« seinen erfolgreichen Einstand als Choreograf gegeben. Als Ausstatter gab Sascha Thomsen, wie Heise an der Dresdner Hochschule für Tanz ausgebildet, damals seinen Einstand beim Ballett in Graz. Für Beate Vollack, Direktorin des Grazer Balletts, Grund genug, Andreas Heise erneut einzuladen. Mit seiner jüngsten Choreografie gelingt ihm ein so berührender wie bewegender »Schwanengesang« nach dem Liederzyklus von Franz Schubert. So sieht es mit großer Freude am Abend der Premiere auch die Grazer Intendantin Nora Schmid, und im Hinblick auf ihre Arbeit in der schönen Stadt an der Mur möchte man doch gerne sagen: Willkommen, demnächst wieder in Dresden, nun als Intendantin der Sächsischen Staatsoper.
Aber zum Anlass der Reise nach Graz: In diesem »Schwanengesang« geht es um Schmerz und Traum, Sehnsucht und Vision: Der Klang des Herzens und der Seele führt in die grenzüberschreitenden Dimensionen des Tanzes und des Gesanges.
Da ist dieser Raum auf der Vorderbühne des Grazer Opernhauses. Ganz nah an den Menschen. Und da sind sie, in diesem Raum mit dem Flügel und den Kirchenbänken, auf denen sie sitzen können, zur Besinnung, um Abschied zu nehmen, um auszuruhen, um sich nahe zu sein, um sich der Einsamkeit hinzugeben im Schutz des Theaters, wenn dieses hier zum regelrecht spirituellen Raum wird.
Da sind die sie, die wunderbaren, so charaktervollen und immer individuell agierenden siebzehn Tänzerinnen und Tänzer der Grazer Kompanie mit ihrer Leiterin Beate Vollack. Sie sie hat einen Brief geschrieben, an Franz Schubert: „Geliebter Franz!“, einen Brief an die Vergangenheit aus Graz, wo Schubert im letzten Jahr seines Lebens lebte, bevor er im Alter von nur 31 Jahren starb. Und mit diesem Brief beginnt dieser Grazer »Schwanengesang«, bevor man in den Zuschauerraum geht, in einer ganz besonderen Form der Einführung, weit ab vom üblichen Aufzählen von Fakten und Namen. Eine Tänzerin, im Kostüm einer Schubert-Zeitgenossin, liest ihren Brief mit zartem Ton der Zuneigung bei dennoch traurigem Unterton und eröffnet so, ganz im Sinne einer choreografischen Inszenierung dieser posthum veröffentlichten vierzehn Lieder von Franz Schubert, jenen folgenden »Schwanengesang«.
Auf der Bühne dann auch jener kleine Schreibtisch, an dem immer wieder der Bariton Wilfried Zelinka versuchen wird, etwas zu Papier zu bringen, etwas erneut zu lesen, um am Ende eben doch jenes so berührende Vermächtnis mit der »Taubenpost« abzusenden. Und diese hier besungene Sehnsucht in ihren vielen Varianten ist es auch, die den Tanz, den Gesang, das Spiel des Pianisten Emiliano Greizerstein beflügelt. Diese Sehnsucht des Gesanges kann in die Höhe des tänzerischen Aufstieges führen – aber auch in die Tiefe der Verlassenheit, stärker noch, immer wieder in diese erschütternden Situationen der Einsamkeit zu zweit oder vereinzelt in der Gruppe.
Und dabei sind uns diese Tänzerinnen und Tänzer auf ihren Wegen der so unterschiedlichen Sehnsüchte doch so nahe. Auch wenn sie von Louise Flanagan in besonderen Farbtönen ihrer Kostüme in gewisser Weise einer Realität der Alltäglichkeit enthoben sind. Ihre Gesichter aber, ihre Blicke, ihre Gesten, so könnte man ihnen noch wenige Stunden zuvor in einem Café, auf der Straße, in der Bahn begegnet sein. Das ist eine der ganz starken Wirkungen dieser Aufführung, diese Tänzerinnen und Tänzer auf ihren Wegen des Abschieds und des Zueinanders, eben ihrer »Schwanengesänge«, kommen uns sehr nahe. Der Sänger gibt ihnen seine Stimme, entweder von der klingenden, schützenden Sensibilität des Pianisten umhüllt, oder auf dessen Sicherheit eines Klangfundaments, um sich auch stimmlich immer wieder in schmerzerfüllte Klangbereiche zu begeben. Die Tänzerinnen und Tänzer aber, in diesen großartigen, choreografischen Dialog geführt, senden ihre Stimmen, die Klänge der Bewegungen ihrer Körper, gewissermaßen diese inneren Stimmen, in der Freiheit der Wahrnehmung für die höchst konzentriert folgenden Zuschauerinnen und Zuschauer.
Zunächst aber, auch dies sowohl musikalisch als auch optisch von besonderer Intensität, zu Auszügen aus Schuberts Impromptu in B-Dur, ebenfalls postum veröffentlicht, jene Bilder der Träume, der Visionen und des Schmerzes, bevor dann im ersten Lied von der »Liebesbotschaft« selbst das dahineilende Tempo nicht über die Vergeblichkeit dieses Traumes von einer Geliebten, einem Geliebten, hinweg täuschen kann. Die Tanzenden dazu in ganz unterschiedlichen Fügungen: Paare, Frauen und Frauen, Männer und Männer, Einsamkeit, Aufbruch, Rückkehr. Oder im fünften Lied, »Aufenthalt«, der Schmerz im Tanz des einsamen Tänzers im optischen Dialog mit dem Schmerz des einsamen Sängers, dem gleich darauf mit den Tänzerinnen und Tänzern in der abgrundtiefen Aussichtslosigkeit des Liedes jenes Fliehenden, den es in die Welt hinaus treibt, aber auf jenen Wegen, denen eben kein Segen nachfolgt: »In der Ferne«. Mit dem Lied zu Ludwig Rellstabs »Abschied«, vor allem durch so wunderbar differenzierten Gesang, diese vorantreibende und dennoch der Nachdenklichkeit nicht ausweichenden Begleitung, dem so begeisternden wie aber auch verunsichernden Tanz der Paare, blitzen so etwas wie Zitate romantischer Ironie auf. Immer wider erstaunlich, wie es dem Choreografen Andreas Heise gelingt, jeglicher Art möglicher illustrierender Wirkung des Tanzes entgegen zu stehen. Die dramaturgische Verblüffung, vor dem Lied »Der Atlas«, den Gesang verstummen zu lassen, zwei Schubert-Stücke erklingen zu lassen, eben jene Briefschreiberin und den Sänger in eine Begegnung der Vergeblichkeit zu führen, die dann, wenn der Sänger am Boden liegt, wie eine mögliche Vorahnung empfunden werden kann, auf die Klage über jene Last die dann auf dessen Schultern liegen wird. Wenn der Sänger »Ihr Bild« besingt, dann lassen eine Tänzerin und ein Tänzer eben aus jenen dunklen Räumen Momente des lichten Tanzes aufblitzen, tief aus innerer Empfindung, Momente der Hebungen, der Vision vom Aufgehoben sein, um dann doch auf diesen Boden jener so einsamen wie unentrinnbaren Tatsachen zurückgehen zu müssen. Im Lied vom »Doppelgänger« spielt wieder jener Mantel seine Rolle, den der Sänger erst ablegte. Jetzt umhüllt er sich, als wollte er Schutz suchen beim Anblick jenes Solos der Einsamkeit einer Tänzerin. Noch einmal vermag es der ausdrucksstarke Sänger Wilfried Zelinka, sich ganz tief den bis heute unausgesprochenen Rätseln der Biografie Schuberts zu nähern: Eben jenes Doppelgängers, auf dem Weg in den Abgrund der Einsamkeit. Dafür stehen auch die so eindrücklichen wie zutiefst berührenden Motive einsamer Umarmungen eines nicht sichtbaren, aber eben erahnbaren Menschen, einer Frau, einem Mann, der Tanz lässt diese diversen Bilder der Sehnsucht immer wieder für Momente aufleben. Am Ende, der Sänger allein, den zu Beginn zerknitterten Brief streicht er mit innerer Hingabe wieder glatt. Jetzt kann er ihn absenden, eben mit jener »Taubenpost«. Er wird seine Adressaten nicht verfehlen; die ihn erhalten werden an diesem Abend im Grazer Opernhaus, müssen sich seiner Sehnsucht stellen und sich fragen, ob man sie denn wirklich kenne, diese mitunter so tief verborgene, eigene Sehnsucht?
Andreas Heise ist es gelungen, den Klang, die Lieder, diese Texte mit ihren so persönlichen Geschichten, den Tanz wie selbstverständlich aus den inneren Stimmen und Empfindungen der Tänzerinnen und Tänzer in eindringliche Bilder der Sehnsucht zu führen. Damit ist seine Choreografie dieses Abschiedsgesanges – das mag wie ein Widerspruch erscheinen – zu einer Choreografie der Ankunft geworden Sie kommt an, bei den Menschen, die sich ihr zu öffnen vermögen. Man wird hier nicht verführt, man wird geführt, ganz nahe hin zu sich. Aber, und auch darin liegt die Kraft dieser Kunst an diesem Abend des Schwanengesanges, in diesem Gesang, in dieser Musik, in diesem Tanz des Abschieds, verlöschen das Licht der Hoffnung und die Kraft der Sehnsucht eben nicht. Das vermag der Tanz, das kommt ganz sicher auch aus dem tiefsten Innern eines Choreografen wie Andreas Heise, dem eben die Kraft eigen ist, Tänzerinnen, Tänzer, den Sänger, den Pianisten, so wunderbar zu sich und somit auch zu uns zu führen. Nahe am Puls der Zeit, aber keine Zugeständnisse an die so oft erhabenen Zeigefinger des Zeitgeistes. Dafür eine starke Einladung, der eigenen Sehnsucht zu trauen, sich auf den Weg zu machen, sie zu entdecken, diese individuelle Kraft der Freiheit. Dieser »Schwanengesang« vermag es, Abschied und Ankunft zu verbinden.