Ach, die Erinnerungen. Acht Jahre ist das legendäre Symposion jetzt her. Im Rahmen des Hellerauer TONLAGEN-Festivals präsentierten damals musikalische Gäste aus aller Welt neuneinhalb Stunden lang neue Kompositionen und neue Instrumente im Festspielhaus. Der kürzlich verstorbene Musiker Jan Heinke spielte einen riesigen Stabgong, die Nacht geriet zum halluzinogenen Trip; das Publikum verließ den Konzertsaal in den frühen Morgenstunden wie berauscht.
Anklänge an dieses unwiederbringliche Langzeitkonzert wehten am Donnerstag zur »Langen Nacht des Cellos« durch den Kulturpalast. Schon die Anreise auf dem Elberadweg ein Abenteuer: fein gekleidete, fröhlich beschwipste Herren in Frack und Zylinder wurden ebenso umkurvt wie dezibeldonnernde, reisiggeschmückte Handwagen. Im Kulturpalast versammelte sich am Ende dieses Herrentags eine weltweit praktizierende musikalische Sekte. Ihre Mitglieder sind allesamt dem Violoncello verfallen. Der Programmzettel verriet, dass Novizen im Alter von drei, vier Jahren rekrutiert werden; der Glaube hält dann meist lebenslang. Siebzehn von geplanten achtzehn Hohepriestern – Corona macht auch vor Cellisten nicht halt – zelebrierten einen Gottesdienst, der gut fünfeinhalb Stunden dauerte, das Abendmahl in den Pausen zwischendurch eingerechnet. Viele der musikalischen Beiträge sind eingeweihten Anhängern länglich bekannt: Julius Klengels »Hymnus« für 12 Violoncelli, Gabriel Faurés »Après un rêve« oder Sergej Rachmaninows »Vocalise«. Von benachbarten Religionen borgte der cellierende Tausendsassa Edgar Moreau darüber hinaus Vittorio Montis virtuosen »Csárdás« (riesiger Jubel!), sausten sechs Cellistinnen und Cellisten durch ein Arrangement von Griegs Holberg-Suite.
Einige zeitgenössische Kompositionen klangen im Vergleich schal. Ellen Reids »Somewhere There is Something Else« (2021), vom Widmungsträger Johannes Moser auf dem Elektrocello dargeboten, ist eigentlich nur ein vorsichtiger Erkundungstrip in die Welt der Loops und Echokammern, blieb aber ohne nennenswerte Erkenntnis, wie auch die drei schlichten Präludien des Kompositionsprofessors am Royal College of Music, Edmund Finnis (Solist: Sheku Kanneh-Mason). Zu gestehen wäre, dass auch die vier von Ivan Monighetti herausgesuchten Solopräludien von Mieczysław Weinberg wenig Anregendes boten, gerade in Monighettis Gegenüberstellung mit den heiligen Reliquen der Cellokirche, Bachs Solosuiten. Die jetzt gut ein Jahrzehnt andauernde Weinberg-Renaissance hat ja viele berührende, schmerzvoll klagende Werke ins Bewusstsein des Konzertpublikums geholt, darunter etwa ein fabelhaftes c-Moll-Cellokonzert. Aber es scheint bei den ernsthaften Erkundungen von Gidon Kremer, Linus Roth und anderen Weinberg-Jüngern am Ende auch viel kompositorischen Beifang zu geben, der einer intensiveren Betrachtung einfach nicht standhält.
Wie tief rührte dagegen der am Donnerstag präsentierte Auszug aus Udo Zimmermanns »Canticum marianum« für 12 Violoncelli, ganz besonders der nächtlich-meeresstille Unisono-Mittelteil! Vor 38 Jahren bei den Dresdner Musikfestspielen uraufgeführt, erklang das Werk vor zehn Jahren schon einmal beim Musikfest-Gastspiel der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker in der Semperoper. Die Aufführung am Donnerstag war der Erinnerung an den im Oktober 2021 verstorbenen Dresdner gewidmet. Mit David Poppers »Requiem« für 3 Violoncelli und Klavier op.66 verbeugten sich Jan Vogler, Daniel Müller-Schott, Edgar Moreau und der Pianist Julien Quentin, der den Abend über chamäleongleich mit seinen Partnern in alle nur möglichen musikalischen Welten eintauchte, zudem vor dem verehrten »Cellomania«-Kollegen Lynn Harrell (1944-2020).
Und, ja, politisch wurde es in der »Langen Nacht« auch. Die russische Cellistin Anastasia Kobekina rang auf der Bühne nach Worten: „Wir leben in Zeiten des Krieges; mein Land führt ihn gegen das Land meiner Freunde…“ Als Zeichen der Solidarität interpretierte Kobekina die Elegie »La tristesse« des ukrainischen Komponisten Mykola Lyssenko, der drei Jahre in Leipzig und später in St. Petersburg bei Rimski-Korsakow studierte. Der legendäre Mischa Maisky krönte den Abend mit der schmerzlichen »Melodie« von Myroslav Skoryk und, direkt anschließend, dem katalanischen Volkslied »El cant dels ocells«, das der Cello-Altmeister Pablo Casals einst durch unzählige Aufführungen zur wortlosen und doch mächtigen Fürbitte machte. Einer Fürbitte um Frieden.
Eine Textfassung des Artikels ist am 27. Mai 2022 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.