John Neumeiers Tanzcollage »Die Unsichtbaren« mit dem Bundesjugendballett ist den Vergessenen gewidmet: verdrängt, vertrieben, verfolgt, vergast in der Zeit des Nationalsozialismus
Da sind sie, sie stellen sich vor, in jugendlicher Unbeschwertheit, die acht Tänzerinnen und Tänzer des von John Neumeier begründeten und geleiteten Bundesjugendballetts mit zwei Gästen. Sie sprechen das Publikum an im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. Sie sind fröhlich, diese jungen Tänzerinnen und Tänzer aus verschiedenen Nationen, mal ein kleiner Scherz mit den Namen, mit der Sprache und dann sagt ein Tänzer: „I am queer“, „I’m gay“ ein anderer, Applaus!.
Und dann begeben sie sich in eine andere Zeit. Dann stellen sich diese wahrhaft unschuldigen jungen Menschen der Schuld anderer Generationen weit vor ihnen. Sie geben ihnen eine Stimme, einen Klang, vor allem kraft der Lebendigkeit des Tanzes jenen »Unsichtbaren«, deren Kunst, deren Persönlichkeiten, deren Herkünfte, Religionen, Traditionen nicht erwünscht waren im nationalsozialistischen Deutschland.
Und bald gehören jene Tänzer, die gerade noch für ihre Offenheit mit Beifall bedacht wurden, zu denen, die wegen Verstößen gegen § 175 verfolgt, geächtet, inhaftiert und im schlimmsten Fall vernichtet wurden.
Auf 16 Stationen gedenkt John Neumeiers Tanz-Collage jener Aspekte des tänzerischen Aufbruchs in die Moderne, dieses Tanzes in die Freiheit des völlig unzensierten Ausdrucks mit bislang ungeahnten Formen körperlicher Befreiung. Bis zum jähen Abbruch durch die vernichtenden Gebote und Verbote der nationalsozialistischen deutschen Kulturpolitik. Es beginnt damit, wie der Tänzer Jean Weidt aus Hamburg zum Emigranten wird. Später wird ein Brecht-Zitat darauf hinweisen, dass dieser Begriff eigentlich die Härte der Tatsachen mildert: Jean Weidt wurde wie viele andere vertrieben, somit unsichtbar und vergessen.
Mary Wigman wurde nicht vertrieben; sie konnte bleiben, unterrichten, ausbilden, sich den neuen Weiten der Freiheit des Tanzes öffnen, so wie sie es in der Schweiz, auf dem Monte Verità, bei Rudolf von Laban, dem „Priester einer unbekannten Religion“ erlebt, erfahren, verinnerlicht hatte.
Die Schauspielerin Isabella Vértes-Schütter wird in dieser Collage als Mary Wigman eine zentrale Rolle spielen. Ebenso immer wieder musikalische, mitunter verfremdete Motive aus Strawinskys »Le Sacre du Printemps« – jenem »Frühlingsopfer«, dessen tödliches Solo dann auch einer Tänzerin gilt, die in grausamster Assoziation weggekarrt wird. Zunächst wird sie ja wirklich willkommen geheißen, die Wigman, mit ihren mutigen Erforschungen des Tanzes, »Was ist Tanz« – so eine Szene. Ja und es muss auch erwähnt sein, dass es ihr gelang, an ihrer Dresdner Schule eine begrenzte Anzahl von Plätzen für jüdische Schülerinnen zu haben. An anderen Schulen war das strengstens untersagt, dazu der anklagende Brief einer Mutter an das Ministerium des Innern.
Und so tanzen hier die Gegensätze aufeinander zu. Wigman schwärmt vom Monte Verità, ausgelassen in totaler körperlicher Freiheit dazu die Tänzer, bis die Feste verklingen müssen, die Tänzer sich verhalten müssen, zu ihren Lieben, ihren Zuneigungen, jetzt alles im Verborgenen, denn von Laban hat sich mit seiner Liebe zu Männern zum Verfolgten gemacht. Die Sensibilität des Tanzes vermag jedoch auch Momente der Hoffnung in dunkelsten Situationen anklingen zu lassen. Dies Kraft der Sehnsucht: »Irgendwo auf der Welt«, singen die verfolgten Comedian Harmonists.
Die Auschwitzüberlebende Lin Jaldati, zu einer eintätowierten Nummer entwürdigt, lässt dennoch den Willen zum Leben nicht erlöschen. Die Tänzerinnen und Tänzer als Sträflinge vermögen Kraft ihrer Bewegungen, ihres Miteinanders, die Entwürdigung der Gleichmachung zu durchbrechen. Und dann wieder Wechsel: Mary Wigman erinnert sich geradezu jubelnd an die junge Tänzerin namens Palucca, die zu ihr kam und deren Sprünge sie begeisterten. Raymond Hilbert hat diese Variationen der Unbeschwertheit in verständlicher Ahnungslosigkeit von dem, was kommen wird, was diese Sprünge ideologisch missbrauchen wird, grandios choreografiert. Und wieder ein krasser Wechsel: In HJ-Uniformen, alle gleich, im tödlich, militanten Gleichschritt, es wird gebrüllt, es wird marschiert, »Erika«. Und doch ein Zeichen der Hoffnung, eine Tänzerin entfernt ihre Armbinde mit dem Hakenkreuz. Es folgt eine so beeindruckende wie zutiefst berührende Passage.
Für wissenschaftliche und dramaturgische Beratung konnte der Tanz- und Theaterwissenschaftler Ralf Stabel gewonnen werden. Seine Biografie über den vergessenen Tänzer Alexander von Swaine war eine der wesentlichen Anregungen für John Neumeier für dieses nunmehr hoch zu schätzende Projekt, vor allem auch im Hinblick auf Geschichte und Gegenwart, auf die – wie hier zu sehen – bislang noch ungeahnten Chancen eines genreübergreifenden Tanztheaters, welches dieser inzwischen beinahe inflationären Beschreibung wirklich auch würdig ist. Von Swaine brach seine Karriere ab, eine Denunziation, Konzentrationslager wegen Homosexualität, Internierung in Niederländisch Indonesien, darauf in Deutschland völlig vergessen, einer der vielen Unsichtbaren. Wie es aber John Neumeier gelungen ist, aus minimalen, filmisch erhaltenen Sequenzen der Fauns-Interpretation von Swaines, die Zeitgenossen über die Nijiskys stellten, zunächst eine Solovariation mit Übergang in ein Duo für zwei Tänzer zu kreieren, das ist eben fernab aller möglichen Rekonstruktionsirrtümer einer der ganz großen Momente dieser getanzten Collage sensibelster Erinnerungen.
Es wird kalt in Deutschland, es wird Winter, die „Unsichtbaren“ kommen zu Wort, aber auch einer, der ganz und gar nicht unsichtbar war: Harald Kreuzberg. Grandios, wie Raymond Hilbert ihn auftanzen lässt, ihn, der ja so unpolitisch war, der so nützlich war für die Vertreter einer Kulturpolitik, die andere mit schwersten Repressionen in die Unsichtbarkeit trieb. Etwa die Dresdner Tänzerin Marianne Vogelsang, deren verbotenes Wiegenlied für einen Gehängten in verinnerlichter – somit ja letztlich widerständigen – Bildhaftigkeit des Tanzes anklingt. »Anklage und Verteidigung«, so ein Dialog von Ralf Stabel zur Aufarbeitung des Verhaltens von Mary Wigman vor und nach 1945. Anpassung oder Widerstand, Mitläuferin oder geschickte Hüterin ihrer Kunst? Der Versuch einer bürokratischen Aufarbeitung muss scheitern. Keiner wirft den berühmten oder eher berüchtigten ersten Stein. Nein, darin liegt die Kraft dieses Abends, die Hoffnung ist nicht erstorben. Wie denn auch, wenn diese jungen Tänzerinnen und Tänzer sich mit ihrer künstlerischen, vor allem aber mit ihrer emotionalen Kraft den Erinnerungen stellen und es vermögen, uns in diesen – mitunter eben sehr schmerzhaften – Prozess einzubinden. Das ist – auch dies ein wichtiger Aspekt dieser Aufführung – keine Frage von Alter oder Herkunft. Da gibt es keinen Ausweg. Wenn es nämlich zur Musik von Freddy Mercurys »Bohemian Rhapsody« scheinbar ins beschwingte Finale übergeht, dann sind wir einem Irrtum erlegen. Die Türen des Theatersaales gehen auf. Aber es gibt keinen Ausweg. Da stehen sie, die Mitwirkenden dieses Abends, fast 300 von Stabel erforschte Namen werden verlesen, Namen der Unsichtbaren, Tänzerinnen, Tänzer, Mitarbeitende aller Gewerke, Autorinnen und Autoren, Komponisten, Musiker…da wir das Ausmaß dieser Unsichtbarkeit zumindest in Ansätzen, vor allem aber emotional, spürbar. Es schmerzt. Es macht Hoffnung zugleich. Zehn junge Tänzerinnen und Tänzer aus acht Nationen widmen sich in bewegender Zuneigung tänzerischer Sensibilität eben jenen Unsichtbaren, an deren Schicksalen sie keine Schuld treffen kann.
Weil eben so viele Wege und Erinnerungen an diesem Abend immer wieder nach Dresden führen, wäre es wirklich zu wünschen, hier, wo viele von ihnen wirkten, diese Unsichtbaren mit einem Gastspiel ins Licht dieser Stadt zu stellen.