Manchmal geschehen die wahren Dramen am Rande eines Theaterabends. Als der Tenor Robert Watson am Ende der Walküren-Premiere in der Berliner Lindenoper für seinen Siegmund ausgebuht wird, fällt er sichtlich in sich zusammen. Spürbar enttäuscht weiß er nicht, wohin blicken, und würde wohl gern im Boden versinken. Das Berliner Wagner-Publikum ist brutal, geradezu unmenschlich. Der Wagnerianer weiß, wie er es gern hätte. Bereits am Vorabend wurde der mexikanischen Startenor Rolando Villazón mit einem Buh-Battalion bombardiert. Anders als Watson gab Villazon den Clown, verneigte sich um so tiefer, knickste und warf wie eine jugendliche Soubrette Kusshände in die aufgeheizte bürgerliche Meute. Watson und Villazón hätten nicht unterschiedlicher mit der Situation umgehen können. Der eine versteckt sich hinter ausgestellter Maskenhaftigkeit, der andere kann sein inneres Drama nicht verbergen. Auf brutalste Weise waren dies die beiden theatralsten Momente beider Premieren. Villazón bringt mich zum herzhaften Lachen, Watson erweckt in mir grenzenloses Mitleiden mit nahezu kathartischer Kraft.
Villazón, Watson und ihr vermeintliches Scheitern (nähme man die Lautstarken im Publikum zum Maßstab) stehen symptomatisch für die erste Hälfte dieses Berliner Rings. Stimmlich geht es hier vor allem laut und schmetternd zu, alle Rollen scheinen in erster Linie nach Dezibelzahl besetzt zu sein. Hier röhrt das Porscheautohaus der Stimmen. Manchmal vergisst man völlig, dass da auch noch ein hundertköpfiges Orchester im Graben sitzt. Da hat Watson in seinem Rollendebüt einfach das Nachsehen. Seine Stimme, obwohl wagnererprobt, wirkt an diesem Abend einfach schwächer, auch phrasiert er zuweilen etwas spröde. Dies mag aber gar Absicht sein, denn sein szenisches Rollenportrait ist eines der wenigen, die im Kopf ein Nachleben entfalten.
Noch vor Sigmunds Auftritt warnen Fernsehbilder im Stile eines Nachrichtensenders vor einem entflohenen Strafgefangenen, vor dem man sich in Acht nehmen solle. In Hundings Hütte fällt aber ein müder, entkräfteter Mann zu Boden. Ein armes, gehetztes Tier, das unbeholfen um das Mittelklasse-Mobiliar der Hundings herumtapst. Unter seiner Kapuze verbirgt der Wölfling Gesicht und Identität, wohl auch vor sich selbst. Dies ist kein Held, dies ist ein Gejagter, ein Antiheld, ein Spielball von Mächten, die er nicht begreift. Er ist ein Gesetzloser, der mutmaßlich wider Willen mit Gesetzen in Konflikt geraten ist. Vielleicht erlaubte er sich im jugendlichen Leichtsinn eine Meinung in einem System, das keine abweichende Meinung vorsieht. Sieglinde verliebt sich also nicht in einen strahlenden Helden, sondern in eine zerbrochene Existenz, die an den Rändern ausfranst — ganz das Gegenbild zu ihrem kantig-uniformierten Polizisten-Gatten Hunding.
Gemeinsam begeben sich die neu vereinten Geschwister auf die Flucht und ähneln dabei auffällig modernen Vertriebenen, vielleicht aus der Ukraine oder einem anderen politisch auseinanderberstenden Land. Die von der Flucht traumatisierte Sieglinde braucht Halt und Schutz, die ihr Siegmund zwar zu geben versucht, aber nicht geben kann. Vielleicht folgt er auch deswegen Brünnhilde und lässt Sieglinde allein zurück. Seinen Tod lässt der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov quasi aus dem Off singen und hält somit offen, ob es Sieglindes Wahnfantasie oder Mauerschau eines brutalen Geschehen ist. Nachdem die Braut mitsamt ihrer Szene in der Unterbühne versunken ist, stehen sich Hunding und der vermeintlich tote Siegmund auf der leeren Bühne ratlos gegenüber. Wotan schickt Hunding weg und überlässt Siegmund einem polizeilichen Spezialkommando, das ihn zusammenschlägt und in die Tiefen der schwarzen Bühne zerrt.
Wie das alles mit Tcherniakovs grundlegender Regieidee in Einklang steht, bleibt nach den ersten beiden Abenden des Ringes unklar. Der mehrfach ausgezeichnete Regisseur entmystifiziert die Sagenwelt der Nibelungen und verlegt die Handlung in ein von ihm selbst erdachtes Forschungsinstitut ESCHE. Am Vorabend des Bühnenfestspiel wird dieses moderne Walhall gebaut und eingeweiht. Die Rheintöchter kommen in Laborkitteln daher und traktieren den in einer Versuchsanordnung fixierten Alberich. Wie Jack Nicholson in »Einer flog übers Kuckucksnest« wird er in den Wahnsinn getrieben. Johannes Martin Kränzle singt und spielt diesen Realitätsverlust mit eindringlicher Intensität. Anders als Jochen Schmeckenbecher, der den Alberich zwei Tage zuvor in Dresden als einen in seiner Ehre zutiefst gekränkten Mann zeichnete, der sich aber am Verfluchen des Ringes geradezu berauschen kann, interpretiert Kränzle in Berlin den Alberich als innerlich gebrochen. Seiner eigenen Machtlosigkeit längst bewusst, begibt er sich desillusioniert in den Gewahrsam seiner Wärter. Beide Interpretationen waren mustergültig, stimmlich packend und doch so grundverschieden.
Im szenischen Gesamteindruck kranken die ersten zwei Teile des Berliner Ringes allerdings an der fehlenden Stringenz der Regie. Alles wirkt wie in Eile montiert und ungenügend geprobt. Sänger scheinen sich immer wieder darüber zu wundern, dass da jetzt schon wieder ein Stuhl steht. Tcherniakov hat sich wie immer selbst die Bühne gebaut, sie in viele kleine Einzelräume zergliedert und sie mit Hausrat vollgestellt. Wie verhaltensgestörte Zootiere laufen die Sänger auf dem beengten Raum auf und ab. Unmotivierte Maschinenfahrten tragen zum verwirrten Gesamteindruck bei. All dies geht zu Lasten einer kohärenten Personenführung. Man kann dies vielleicht am besten an Villazóns Loge beschreiben.
Der Mexikaner singt die Partie mit verlockender Kraft, lässt die Leichtigkeit des italienischen Tenorfachs immer wieder durchscheinen und hat stimmlich das Zeug zu einem Feuergott der Extraklasse. Er hat sich aber wohl in den Kopf gesetzt, den Loge als Marionettenmeister, als Intrigenspinner par excellence zu gestalten, und setzt dies mit einem gestischen Repertoire um, das an schlechte Operette erinnert — ein Stehaufmännchen der Mätzchen. Dabei bleibt unklar, warum sich irgendwer auf seine leicht durchschaubaren Taschenspielertricks einlassen sollte. Dies alles ist aber nur Symptom für die generelle Absenz einer durchdachten Personencharakterisierung. Neben Villazóns Loge bleibt beispielsweise Wotan als Figur weitgehend farblos. Im Rheingold kommt er mit Loge meist im Doppelpack daher und wirkt wie eine Mischung aus Rudolph Moshammer, Cruella de Vil und Klausjürgen Wussow: mehr Hoteldirektor aus einem schlechten Heimatfilm als Direktor eines Forschungsinstituts. Und diese Problematik des Unpräzisen findet sich in fast jedem Rollenportrait.
Natürlich kann dieses Autohaus voller Porsches und Ferraris trotzdem die Motoren heulen lassen. Berlin leistet sich ein Sängertableau, dass man sich manchmal fragt, ob noch irgendwo ein Luxusschlitten mit mehr Hubraum in der Garage steht. Michael Volle als Wotan, Vida Miknevičiūtė als Sieglinde, Anja Kampe als Brünnhilde, Anna Kissjudit als Erda. Es ist ein Dreamcast, den sich Barenboim da zusammengestellt hatte. Nun hat bekanntlich in letzter Minute Christian Thielemann für den erkrankten Hausherren der Lindenoper die musikalische Leitung übernommen – und die Berliner feiern ihn. Er beweist seine Wagner-Expertise und begleitet mit der Staatskapelle Berlin die Sänger mit einem nahezu kammermusikalischen Klang. Thielemann geriert sich als Meister der langsamen Tempi – für das Rheingold braucht er ganze 25 Minuten länger als Marek Janowski in Dresden. Thielemanns Berliner Wagner klingt aber auch preußischer als seine Wagner-Interpretationen in der Semperoper. Verglichen mit ihrem sächsischen Pendant spielt die Staatskapelle Berlin weniger samtig, allerdings auch akzentuierter. Der auch noch mit angehobenen Dach deutlich trockenere Klang der Lindenoper tut sein Übriges: hier versteht man jedes Wort, jeden Akzent. Gelegentlich wird das aber fast ein wenig zu protestantisch-preußisch. Ob dies am Haus und Orchester liegt, oder ob Thielemann seinen Wagner-Klang grundlegend neu justiert, wird man bei seinen beiden kommenden Ring-Zyklen Anfang 2023 in Dresden erleben können.