Der Zufall wollte es, dass die amtierenden Chefs der beiden Dresdner Orchester zeitgleich den kompletten »Ring des Nibelungen« dirigierten: der eine als hochkarätiger Einspringer in der Berliner Lindenoper; der andere, lang geplant, im Dresdner Kulturpalast. Nach mehr als fünfundzwanzig Stunden Musik (die Dresdner »Walküre« überschnitt sich mit dem Berliner »Rheingold«), über 600 Kilometern auf der Autobahn, zahllosen Koffeindosen und einem Blitzer in den frühen Morgenstunden hier mein persönliches Resümee.
Unterschiedlicher könnten zwei Interpretationen des Wagnerschen Opus Magnum kaum sein. Marek Janowski und Christian Thielemann markieren wahrscheinlich sogar die beiden Extremwerte auf der Ring-Skala. Der Chef der Philharmoniker liebt straffe Tempi und ein zupackendes, sinfonisch gedachtes Musizieren. Der Chef der Kapelle lässt im Graben der Berliner Staatsoper das Orchester hauchen und flüstern, und das alles in einem Tempo, bei dem jedes Sechzehntel deutlich ausmusiziert werden kann. Beim »Rheingold« war Janowski ganze 25 Minuten schneller, bei der »Götterdämmerung« betrug der Unterschied eine geschlagene Stunde.
Die Tempounterschiede sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Thielemann musiziert mit der Berliner Staatskapelle überaus sängerfreundlich in einem dynamischen Spektrum, das selten über ein Mezzoforte hinausgeht. Er dünnt dabei den Klang zu einem filigranen Parlando-Ton aus, in dem die Melodie ein für Wagner ungewöhnliches Primat genießt. Ganz anders klingt der Wagner im Kulturpalast. Hier werden Klangmassen effektvoll massiert, sinfonische Wellen schlagen zusammen, brechen sich in instrumentalen Farben. Es wird selten geflüstert; das dynamische Spektrum ist variantenreicher, spannt sich aber eher vom Mezzoforte bis zum vielfachen Fortissimo. In Berlin herrscht preußische, nichtsdestoweniger klangschöne Nüchternheit, in Dresden musikalischer Exzess.
Trotz der extremen Unterschiede sind beide Interpretationen in sich schlüssig und extrem beeindruckend. Die Thielemannsche Transparenz erlaubt es beispielsweise, die thematischen Bezüge zwischen dem Hunding-Akt der »Walküre« und dem ersten Akt »Siegfried« in selten gehörter Klarheit aufzufächern. Wie sensibel und stringent Thielemann dieses musikalische Déjà-vu, oder besser Déjà-écouté, mit der Berliner Staatskapelle herausarbeitet, sucht seinesgleichen. Leider nutzen nicht alle Sänger diese behutsame kapellmeisterliche Orchesterführung. Insbesondere Michael Volle als Wotan und Andreas Schager als Siegfried beeindrucken zwar in ihrer mühelosen Stimmpräsenz, hätten aber durchaus mehr dynamischen Spielraum dank des flüsternd-wispernden Orchestertons.
Die Lindenoper ist dank ihres musikalischen Leiters Daniel Barenboim seit den neunziger Jahren ein Hort der Wagnerpflege. Das Orchester des Hauses klingt auch unter Thielemann vorbildlich. Und doch scheint der Kraftakt von vier Premieren in einer Woche insbesondere am Blech zu zehren. Spätestens in der »Götterdämmerung« schwächelt es hier hörbar. Thielemann scheint für den letzten Funken Klangmagie, den sein Larghetto-Stil braucht, die Dresdner Zauberharfe zu fehlen. In Berlin wird einem beim aufmerksamen Zuhören noch einmal bewusst, wie kongenial die Zusammenarbeit des Berliner Dirigenten und der Sächsischen Staatskapelle gerade für Wagner ist.
Jump-Cut in den Kulturpalast. Am letzten Abend des Zyklus hat sich jetzt auch bei den Dresdnern herumgesprochen, was sie da an den ersten drei Abenden verpasst hatten. Gut verkaufter Saal, ein wunderbar gemischtes Publikum und elf Minuten tosender Applaus, seit der ersten Minute stehend. Der Saal bejubelt ein hervorragendes Sängerensemble mit Catherine Foster als Brünnhilde und Vincent Wolfsteiner als Siegfried an der Spitze. Marina Prudenskayas besonders in der gutturalen Tiefe beeindruckende Waltraute und die wunderbaren Nornen von Christa Mayer, Kristina Stanek und Miriam Clark klingen mir noch im Ohr. Aber allein für den mit Mitgliedern der Leipziger Oper verstärkten MDR-Rundfunkchor hätte sich der Besuch gelohnt. Mit einem solchen Chor kann kein Opernhaus dieser Welt glänzen.
Noch nie haben die Philharmoniker den kompletten Zyklus gespielt – und an diesem letzten Abend wird klar, warum Janowski es noch einmal wissen wollte. Das Orchester hat sich über Monate einen originären, knackigen Wagner-Sound erarbeitet und diesen über die vier Aufführungsabende hinweg perfektioniert. Im »Rheingold« fremdelten die Musiker noch hörbar mit dem Wagnerschen Ton. In der »Götterdämmerung«, vielleicht auch dank des vollen Saales, sieht man reihenweise beseelt lächelnde Orchestermusiker. Sie wissen: der Orchesterklang, das Zusammenspiel ist mit diesem Projekt gewachsen. Der am Ende des »Rings« sichtlich ermattete Janowski hatte wohl genau dies im Sinn, sein Orchester in neue Höhen zu führen und es gut bestellt an einen Nachfolger oder Nachfolgerin übergeben zu können, wenn er denn in naher Zukunft das Zepter, oder vielleicht doch den Ring, abgibt.
Sein Wagner-Klang feiert das Orchester als den wahren Helden der Tetralogie. Es ist eine Klangmaschine, die hier im Kulturpalast rauscht, schmettert, hämmert, klickert, braust und tost, eine Maschine der Klangfarben, ein Apparat der Überwältigung. Oft scheint der Sturm, den Janowski entfacht, überhaupt nicht zu seinem äußerst ökonomischen, sachlich organisierenden Dirigierstil zu passen. Er beherrscht diesen rauschhaften Klang und leuchtet trotz aller Klangmassen und rasant packender Tempi jede Ecke der Partitur aus. Nichts geht hier verloren. Fast scheint er Thielemann in jedem Takt zu widersprechen: Man muss Wagner nicht langsam und leise spielen, um ihn analytisch bis ins Detail hinein zu durchleuchten.
2016 waren beide Herren der Ringe auf dem grünen Hügel. Marek Janowski dirigierte den Zyklus und bat seinen Bayreuth-erfahrenen Kollegen, ihm beim Ausjustieren im legendär schwierigen Graben des Festspielhauses behilflich zu sein. Nur zu gern wüsste man, was diese klanglichen Antipoden mit ihrem grundverschiedenen Wagner-Verständnis damals miteinander beredet haben oder auch nur übereinander gedacht haben mögen.