Am Wochenende konnte man in den zwei protestantischen Hauptkirchen der Stadt sowohl die Tradition als auch den Neuanfang sächsischer Bachpflege erleben. In der Kreuzkirche trat der neue Kantor Martin Lehmann mit den ersten drei Kantaten des Weihnachtsoratorium an; in der Frauenkirche nur wenige Schritte entfernt dirigierte Ludwig Güttler die ersten und letzten beiden Kantaten des sechsteiligen Zyklus. Dabei zelebrierte der Startrompeter Lametta-Hochglanz am Neumarkt, wohingegen man am Altmarkt eher feingliedrige Strohsterne bewundern konnte.
Ludwig Güttler verabschiedet sich dieser Tage mit einer Reihe von Konzerten in den verdienten musikalischen Ruhestand. Am Pult sitzend, dirigierte er den Weihnachtsklassiker dabei hörbar aus einer auch persönlich mitgeprägten langen sächsischen Tradition heraus. Man fühlt sich an die Einspielungen unter Flämig aus den 70ern und unter Peter Schreier Ende der 80er erinnert. Über einem satten Bassfundament blitzte der Blechglanz, als wollte er das Blattgold des barocken Altarraums in den Schatten stellen. Dieser festlich schmetternde Klang denkt alles vom Jauchzet, frohlocket des Eröffnungschores aus und findet seine musikwissenschaftliche Begründung in der Glückwunschkantate für die Kurfürstin Maria Josepha, »Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!« (BWV 214), die Bach bekanntlich als musikalischen Steinbruch für die weihnachtlichen Kantaten genutzt hat.
Diesem blitzblanken Bläserhimmel steht im nüchternen Rauhputz der Kreuzkirche ein tänzelnd kontemplativer, sich selbst befragender Ansatz gegenüber. Allem wohnt der Reiz des Neuen inne. Vielleicht auch weil der Kreuzchor aufgrund des hohen Krankenstandes sich kurzfristig Unterstützung von Cantamus und Vocal Concert Dresden geholt hat. Da wackeln gelegentlich mal die Tempi, aber selbst die Beteiligten scheinen immer wieder überrascht, wie gänzlich anders das weihnachtliche Schlachtross doch klingen kann. Lehmann dämpfte gerade das Bassregister und die Bläser und animierte die Philharmoniker zu agilem, leichtfüßigen Spiel, so dass Laute und Cembalo hörbar durchklangen.
Sängerisch waren beide Aufführungen hochkarätig besetzt. Der Gattungsbezeichnung von BWV 214 folgend, erklang in der Frauenkirche ein Dramma per musica. Besonders sinnfällig wurde dies im Trio der 5. Kantate: Effektvoll setzte die Altistin Julia Böhme ihre Rufe “Schweigt, er ist schon würklich hier” gegen die von Romy Petrick und Stephan Scherpe gesungenen Glaubenszweifel. Wer wissen will, wie die dramatischere Anlage der 5. und 6. Kantate in der Kreuzkirche klingen, muss sich bis Januar gedulden. In den ersten drei Kantaten griffen die Solisten am Altmarkt Lehmanns Einladung zu musikalischer Selbstbefragung und Experiment auf. Beeindruckend die Altistin Henriette Gödde, als sie ihr “Schlafe, mein Liebster” nahezu als Harmonieklang ins Orchester einband. Oder auch der großartige Evangelist des irischen Tenors Robin Tritschler, der mit sprechend-singendem Parlando stilistisch Lichtjahre von der in Dresden prägenden Interpretation Peter Schreiers entfernt war.
Was man aus den Aufführungen mitnimmt, ist der beglückende Eindruck, wie breit die Dresdner Chorszene aufgestellt ist. Das Sächsische Vocalensemble überzeugte mit dynamischer Bandbreite und hoher Präzision. Dessen Leiter Matthias Jung, der einst den Kreuzchor kommissarisch leitete, unterstützte seinen Chor sängerisch im Bass. Mit Cantamus, gegründet vom aktuellen Kreuzkantor, und Vocal Concert unter der Leitung von Peter Kopp, der jahrelang als Assistent den Kreuzchor mitgeprägt hat, stehen drei professionelle Ensemble auf den Chorpodesten, um die uns manch andere Stadt beneiden muss. Und da ist der Kreuzchor unter seinem neuen Leiter noch nicht einmal erwähnt.
Nur eine so reiche Chorlandschaft erlaubt so unterschiedliche und zugleich qualitativ hochwertige Interpretationen eines Klassikers. So nah, und ich meine hier räumlich nah, können ein krönender Abschluss und ein fragender Neuanfang beieinander liegen.