Wer immer sich an die Aufführung von Schönbergs »Moses und Aron« im Großen Haus zu Dresden erinnert, wird sich an die entwaffnend einfache Lösung Harry Kupfers für den brennenden Dornbusch ebenso erinnern wie an die phänomenale Leistung von Reiner Goldberg, Werner Haseleu, von Staatsopernchor, Staatskapelle und: Siegfried Kurz am Pult. Ein Meilenstein der Dresdner Operngeschichte, der nach einem bereits phänomenalen »Wozzeck« von Alban Berg einige Jahre zuvor Kurz‘ Kompetenz als Dresdner GMD und musikalischer Chef der Oper nachdrücklich unterstrich und festigte. Die Leistung des Dirigenten am Pult der Dresdner Staatskapelle erregte national wie international großes Aufsehen und beförderte die Dresdner Oper in die Liga der Opernhäuser von München, Hamburg und (West-)Berlin.
Am 8. Januar 2023 ist Siegfried Kurz nach langer Krankheit mit 92 Jahren verstorben. Er begann seine musikalische Laufbahn als Trompeter. An der Akademie für Musik und Theater in Dresden studierte er bei Fidelio F. Finke Komposition, Orchesterleitung und Trompete. 1949 wurde ihm die Leitung der Schauspielmusik an den Staatstheatern in Dresden übergeben. 1960 wechselte er in die Opernsparte, wo er als Kapellmeister neben Rudolf Neuhaus begann, 1964 zum Staatskapellmeister, 1971 zum Generalmusikdirektor und 1976 schließlich zum geschäftsführenden musikalischen Oberleiter befördert wurde. Daneben unterrichtete Kurz ab 1976 an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, seit 1979 als Professor für Orchesterdirigieren. 1983 beendete er sein festes Engagement an der Dresdner Staatsoper, blieb dem Haus jedoch weiterhin als Dirigent verbunden. So leitete er nach Eröffnung der Semperoper die Premiere der »Meistersinger« (Regie: Wolfgang Wagner) und später auch Vorstellungen der »Elektra«-Inszenierung von Ruth Berghaus. Ab 1984 war er ständiger Kapellmeister an der Deutschen Staatsoper Berlin. Ihm wurden mehrere bedeutende Auszeichnungen verliehen, u. a. der Nationalpreis der DDR (1976 und 1988). Im Jahr 2001 wurde der in Radebeul–Niederlößnitz wohnende Kurz mit dem Kunstpreis der Großen Kreisstadt Radebeul ausgezeichnet.
An den Staatsopern in Dresden und Berlin war der Dirigent über Jahrzehnte ein Garant hervorragender Aufführungen, beherrschte traumwandlerisch das große Repertoire, das er ebenso in Leipzig (»Tristan« und »Rosenkavalier«), in Paris (»Rheingold«), Buenos Aires (»Rosenkavalier«), Bonn (»Wozzeck«, »Parsifal«, »Der feurige Engel«), Genf (»Wozzeck«), in Japan, den USA und anderswo dirigierte. Es existieren hervorragende Mitschnitte etwa von Strauss‘ »Rosenkavalier« (aus Venedig), Webers »Freischütz« (aus Japan), Wagners »Tannhäuser« und Bergs »Wozzeck« mit den langjährigen Partnern Ruth Berghaus, Harry Kupfer, Erhard Fischer, Theo Adam, Peter Schreier, Gisela Schröter, Siegfried Lorenz, Reiner Goldberg, Klaus König u.v.a.m.
Legendär war die piano-Kultur und Präzision, mit der unter Kurz musiziert wurde. Die Sängerinnen und Sänger wurden vom Pult aus sicher begleitet und geführt, es war kein dirigierender Souffleur notwendig. Strauss‘ »Elektra« war bei Kurz ein kammermusikalisch durchhörbares Stück und in der Inszenierung von Ruth Berghaus unter seiner Leitung am leisesten. Auch hiervon existiert ein Gastspielmitschnitt aus der Deutschen Oper Berlin von 1990.
Am 13. Februar 1983 leitete Siegfried Kurz die Gedenkvorstellung zum hundertsten Todestag von Richard Wagner. Gewandhaus und Opernhaus hatten dafür »Tristan« angesetzt und den Dresdner GMD dazu ans Pult geladen. Die Aufführung war ein grandioser Erfolg.
Neben den schon erwähnten Opern Bergs und Schönbergs war Siegfried Kurz mit dem »Lukullus«, dem »Lanzelot« von Paul Dessau (in Dresden und Berlin), der »Antigone« von Orff, Bartóks »Herzog Blaubarts Burg«, mit »Levins Mühle« von Udo Zimmermann (alles in Dresden) und »Graf Mirabeau« von Siegfried Matthus (in Essen) auch stets ein Anwalt des Ungewohnten und Modernen.
Das sollte nicht verschwiegen werden: oft genug ein unbequemer Anwalt! Musikerinnen und Musiker fürchteten seinen in gediegenem Sächsisch vorgetragenen Zorn ebenso, wie Sängerinnen und Sänger schon in der Pause damit rechnen mussten, ins Zimmer des GMD gebeten zu werden. Die so Kritisierten rühmen heute fast alle und ausnahmslos die Gründlichkeit, die Genauigkeit und den Furor, der hinter allem Ärger stand. Es ging Siegfried Kurz stets um die Sache. Sauberes Handwerk prägte sein Dirigieren, detaillierteste Partiturkenntnis sein Arbeiten, lebendiges Musizieren seinen Stil. Und noch heute erinnern sich viele der wundervollen Führung durch die Hand des in den Proben so ungnädigen Dirigenten.
1979 wurde ich sein erster Hauptfachschüler im Dirigieren. Die erste Stunde verging mit den einleitenden acht Takten der Freischütz-Ouvertüre – und auch danach nahm das Arbeitstempo keineswegs deutlich zu. Tempo und Rhythmus sowie die Sauberkeit des Dirigats waren Hauptthemen beim wöchentlichen Treffen, das auch in Sachen Klarheit der Kritik keine Fragen offen ließ. An die Direktheit musste man sich gewöhnen – sie überstanden zu haben ist wahrscheinlich der größte Gewinn. Zu seinen Studierenden zählten u. a. Gerd Herklotz, Martin Hoff, Hans-Christoph Rademann, Eckehard Stier, Michael Güttler, Maja Sequiera, Annunziata de Paola und manch andere mehr.
Wegen der umfangreichen Dirigenten- und Lehrtätigkeit verstummte der Komponist Siegfried Kurz in den späteren Lebensjahren zunehmend. Sein mit Schwung hingeworfenes Trompetenkonzert gehörte mit jazzigen Anklängen seinerzeit sogar zum Schulstoff des DDR-Musikunterrichts: ein noch heute interessantes Dokument lebendigen, modernen Komponierens aus den Fünfziger Jahren. Bedeutende Stücke kamen später hinzu: das Hornkonzert für Peter Damm, zwei Sinfonien, ein Klavierkonzert, Kammermusik und sogar ein Musical: »Jeff und Andy« wurde 1971 in der Staatsoperette Dresden uraufgeführt, ein unterhaltsames Stück Musik, das Horst Ludwig inszenierte und in dem Reinhold Stövesand eine Hauptrolle sang und spielte. Die Elbland Philharmonie Sachsen hat es 2018 in einem Unterhaltungskonzert in Ausschnitten nochmals zum Leben erweckt. Eines der bedeutendsten und gleichzeitig letzten Werke war »Aufenthalt auf Erden«, Reflexionen für Orchester nach Pablo Neruda op. 38. Kurz hatte Mühe, die Wege der zeitgenössischen Musik mitzugehen. So sehr er Paul Dessau verehrte und ebenso perfekt wie wunderbar dirigierte, so sehr hatte er Mühe, avantgardistischere Konzepte in sein musikalisches Denken zu integrieren.
In den letzten Jahren war es still geworden um den Maestro, der in jüngeren Jahren ein talentierter Bergsteiger war und so manchen schwierigen Gipfel der von ihm geliebten Sächsischen Schweiz bestiegen hat. Mit seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau – ehemals Harfenistin an den Landesbühnen Sachsen – lebte er in Radebeul. Er hinterlässt Tochter und Enkelin, eine unübersehbare Menge dankbarer Schülerinnen und Schüler sowie respektvoll von seiner Kompetenz schwärmende Orchester!
Wir werden sein Andenken in Ehren halten!