Parma und Elbflorenz – eigentlich könnten sie Partnerstädte sein, haben sie doch mehr als nur Marginalien gemein, und mehr als man vielleicht auf den ersten Blick denken mag: Beide nicht allzu große Städte, aber doch mit einem entschiedenen Zug ins geträumt Bedeutsame, zwei kleine heimliche Hauptstädte. Auch auf musikalischem Gebiet werden Ähnlichkeiten deutlich. Ist es in Dresden Wagner, den die Stadt seinerzeit für einige Jahre beherbergte, und der heute als Aushängeschild dient, so verbrachte dessen italienischer Altersgenosse Giuseppe Verdi seine frühen Jahre in der Umgebung von Parma. Heute ist Verdi in der Stadt allgegenwärtig; in allen Formen und Farben in Auslagen, Galerien und Cafès.
Der andere große Sohn der Stadt, Arturo Toscanini, ist Namensgeber der Filarmonica Arturo Toscanini, die sowohl Opern als auch Konzerte in der Stadt wie im Umland zur Aufführung bringt. 2002 wurde der neue Konzertsaal, das »Auditorium Niccolò Paganini« eingeweiht, ein vom Architekten Renzo Piano formschön gestalteter Umbau einer ehemaligen Zuckerfabrik. Alberto Triola, der Intendant des Orchesters, hat die Eigentümlichkeit der musikalischen Auffassung aus dieser Doppelspur aus Oper und Konzert beschrieben: Grundlage für die musikalische Gestaltung des Orchesters sei immer der Gesang, die Melodie und die lebendige Artikulation. Für die Dresdner Musikfestspiele gastiert das Orchester nun am 8. und 9. Juni mit zwei Konzerten in Dresden. Unter der Leitung von Omer Meir Wellber, der als vormaliger Erster Gastdirigent an der Semperoper in Dresden bestens bekannt ist, spielen sie ein Programm aus – Verdi und Wagner, neben Tschaikowski und Schostakowitsch. Aron Koban konnte Omer Meir Wellber im Auditorium in Parma zwischen Probe und Konzert treffen und ihn zu diesen beiden Konzerten befragen – und dazu, was er von musikalischer Cancel Culture hält, und wie Wagner auf Italienisch klingt.
Herr Wellber, Sie kommen gerade aus einer Probe. Gustav Mahler hat mal gesagt, ein Dirigent ist eigentlich nur für die Proben da. Würden Sie da zustimmen?
Ja, (lacht) im Prinzip hat er recht. Es sind zwei verschiedene Mechanismen zwischen Probe und Konzert. In der Probe suchen wir unsere Grammatik, unser Vokabular, unser Zusammendenken, alle diese Sachen, aber richtig Literatur mache ich in der Probe niemals, und niemals in der richtigen Reihenfolge. Von der Mitte, oder von hinten nach vorn, das ist genau, was ich suche: Dieses Chaos darf erst im Moment des Konzerts eine Form finden, sonst verlieren wir am Ende diese Magie. Wir wollen nicht die x-te Wiederholung spielen; wir wollen in dem Konzert das Gefühl haben, dass wir etwas Neues finden und etwas Neues suchen.
Die Noten sind ja alle schon geschrieben…
In der Probe ist das sehr gefährlich. In meinem Musizieren brauche ich diese Freiheit, und um die zu erreichen, brauche ich auch Chaos in der Probe. Ich versuche, dass die Musikerinnen und Musiker mitdenken und mitsuchen und nicht nur denken: Okay, wir spielen das Stück in dem und dem Tempo im Konzert.
Wie gehen Sie damit um, wenn die Musiker das Stück schon oft gespielt haben und eigentlich wissen, wie sie spielen wollen?
Bei einem neuen Stück gibt es natürlich immer eine Suche. Aber bei einer Sinfonie von Tschaikowski, die wir schon oft gespielt haben, ist es noch wichtiger, dass wir dieses kalkulierte Chaos in den Proben richtig leben, damit wir die Töne im Konzert dann gut setzen können.
Sie kommen in einigen Tagen mit der Filarmonica Arturo Toscanini aus Parma nach Dresden und stellen als Rahmen jeweils eine Verdi- einer Wagner-Ouvertüre gegenüber.
Ich denke, für das Publikum in Dresden wird es sehr interessant, wirklich einmal zu hören, wie Wagner mit einem italienischen Orchester klingt. Sie spielen Wagner wirklich ganz anders, und ich strebe nicht an, dass dieses Orchester in Dresden plötzlich wie die Staatskapelle spielt. Wagner hat eine große Tradition in Italien. Selbst Furtwängler hat den »Ring« in der Scala in Mailand dirigiert, auf italienisch, das ist unglaublich! Furtwängler! Die Idee bei unseren beiden Konzerten ist, dass dieses italienische Orchester mit einer anderen Deutung nach Dresden kommt, mit einer italienischen eben. Das kann eine sehr eindrucksvolle kulturelle Botschaft sein.
Gibt es einen Unterschied zwischen einem deutschen und einem italienischen Orchester?
Ja, einen großen Unterschied! Die Streicher zum Beispiel. Das wichtigste Element der deutschen Schule ist, die Noten immer bis zu Ende zu spielen, die Priorität ist der Klang und seine Schönheit. In Italien sucht man hingegen die perfekte Phrasierung, was sehr interessant ist, wenn man große Stücke spielt, wie etwa die von Wagner. Dann gibt es diese Mischung von Klang und Phrasierung, was den Zuhörern eine neue, faszinierende Perspektive eröffnen kann.
Was halten Sie von dem immer wieder zitierten „German Klang“, gibt es den wirklich?
Ja, absolut. Es ist ja nicht nur Klang, es ist das Denken, eine ganz andere Mentalität. Es hat sich über Generationen entwickelt und ist Teil der deutschen Klang-DNA geworden. Es kommt auch vom Kopf her – ebenfalls sehr deutsch. Ich habe immer diesen unglaublichen und interessanten Klang im Ohr, der mit der Staatskapelle entsteht. Ein Phänomen, das nicht so einfach zu beschreiben ist und sich nicht im schlichten Mehr-Bogen/Weniger-Bogen erschöpft. Der Klang trägt etwas in sich, das vom Herzen herrührt und etwas, das im Kopf entstanden ist. Das ist einmalig.
Wo wir jetzt bei italienischer und deutscher Musikauffassung sind, können Sie eigentlich mit dieser Entgegensetzung von Toscanini und Furtwängler etwas anfangen? Oder wo würden Sie sich selber positionieren?
Meine persönliche Beziehung mit Furtwängler und Toscanini hat sich mit der Zeit verändert. Als ich sehr jung war, mit 19, 20 Jahren, war Toscanini für mich die Nummer eins, und ich habe alle möglichen Aufnahmen von ihm gehört. Furtwängler faszinierte mich damals weniger. Inzwischen ist es umgekehrt.
Wie kommt das?
Seltsamerweise kling für mich Toscanini heute fast deutscher als Furtwängler, und Furtwängler italienischer als Toscanini. Denkt man an Italien, denkt man an Freiheit, an den Einsatz von Rubato, mit Deutschland verbindet sich für mich eher so etwas wie Ordnung. Furtwängler hat sich vor allem gegen Ende seiner Karriere sehr viele Freiheiten genommen: In jedem Takt ein anderes Tempo! Das gibt den Werken eine unglaubliche Lebendigkeit.
Stoßen Sie bei einem Orchester manchmal auf eine Musizierhaltung, die für Sie schwierig ist?
Ich arbeite sehr gerne mit Orchestern, die Wert auf den Dialog mit dem Dirigenten legen und die sich dafür interessieren, was für eine Geschichte wir gemeinsam mit einem Werk erzählen wollen. Mit solchen Orchestern entstehen dann schon in der Vorbereitung großartige Momente, in denen man alles um sich herum vergisst. Wie zum Beispiel mit der Staatskapelle in Dresden. Das ist großartig.
Ich habe Sie immer als einen sehr temperamentvollen Dirigenten erlebt – was würden Sie sagen, was bedeutet Ihnen Stille in der Musik?
Erst die Stille in der Musik bringt die Spannung. Ohne Stille geht es überhaupt nicht, was auch nicht etwas mit mir als temperamentvollem Dirigenten zu tun hat. Immer wieder gibt es Stille in der Musik, sie ist spannungsgeladen, und das fängt schon im Moment vor Beginn des Vortrags an, ganz zu schweigen von den Pausen in den Stücken. Es ist gar nicht so einfach, über diese Momente der Stille die Spannung zu halten. Wenn ich z.B. eine Sinfonie wie die Sechste von Tschaikowski dirigiere, wo es viele Momente mit einer solchen Verbindung zwischen fünf-, sechsfachen pianissimi und extrem starkem fortissimo gibt, das finde ich großartig. Und heute können wir, besser noch als früher, sehr leise spielen und sehr laut. Die ruhigen oder gar die stillen Momente verleihen der Musik überhaupt erst ihre Wucht.
Sie spielen in den beiden Konzerten noch Tschaikowski und Schostakowitsch. Was hat es mit dieser Kombination auf sich?
Das sind zwei Persönlichkeiten, die sich in ihrer Gesellschaft niemals gefunden haben. In dieser Nicht-Begegnung der beiden Künstler spiegelt sich die osteuropäische Musikgeschichte: Werke dieser beiden Künstler auf ein Konzertprogramm zu setzen, erzeugt für mich eine enorme spannungsreiche Dynamik.
Was interessiert Sie an dem Cellokonzert von Schostakowitsch?
Das ist etwas persönliches. Es war eine meiner großen Erfahrungen in der Musik. Ich war vielleicht fünfzehn Jahre alt. Mstislaw Rostropowitsch war in Tel Aviv mit dem Israel Philharmonic unter Zubin Mehta. Rostropowitsch hat dieses Schostakowitsch-Konzert gespielt, das ich zuvor noch nie gehört hatte. Das Konzert hat mich geradezu schockartig ergriffen. Eine ganz extreme Erfahrung. Damals wusste ich: Dieses Konzert muss ich irgendwann einmal dirigieren.
Von Tschaikowski dirigieren Sie die 6. Sinfonie, die »Pathétique«, und das 1. Klavierkonzert. Hat sich durch den Krieg in der Ukraine etwas in Ihrem Verhältnis zu Tschaikowski geändert?
Nein. Absolut nicht. Warum?
Er wird von der russischen Regierung vereinnahmt.
Was hat Tschaikowski mit dem Krieg zu tun? Rein gar nichts. Schon historisch gibt es da keine Verbindung. Kein Staatschef ist stark genug, Komponisten wie Tschaikowski oder Wagner für sich zu vereinnahmen. Die Musik Tschaikowskis ist viel stärker als Autokraten oder gar Diktatoren.
Haben Sie einen Bezug zum Pathos in der „Pathétique“?
Die Sinfonie hat kein Pathos, auch wenn Tschaikowskis Bruder gedacht hat, ihr damit eine gute Überschrift zu geben. Doch trifft das Wort pathetisch, so wie wir diesen Begriff heute gebrauchen, nicht das, was diese Sinfonie so großartig macht. Und das ist das zutiefst Persönliche, Intime. Der dritte Satz endet mit dieser großen Fanfare, die einen wie auch immer gearteten Sieg nahelegt. Doch folgt unmittelbar der vierte Satz, den ich attacca spiele, also direkt an den dritten anschließend ohne die übliche kurze Pause. Der Effekt, der darauf entsteht, ist umwerfend. Denn mit dem Vierten Satz vergeht das Strahlen am Ende des Dritten, es wird düster. Man kann das als persönliches Erleben Tschaikowskis begreifen: Das Leben wendet sich, wird schwieriger. Genau das ist die Geschichte dieser Symphonie: Momente der Stärke und Überlegenheit vergehen im Handumdrehen. Und dann ist man plötzlich allein.
Das Klavierkonzert von Tschaikowski ist wirklich ein sehr oft gespieltes Stück. Wie gehen Sie mit solchen Stücken um, müssen Sie da noch etwas Neues dran finden? Ist das möglich?
Mit Spannung warte ich in diesem Stück auf Michail Pletnjow. Er spielt jetzt wirklich selten. Für mich ist er der größte Pianist seiner Generation, und es war seit Jahren ein Traum von mir, einmal mit ihm zusammen zu musizieren. Jetzt hat es endlich geklappt. Mit seiner Interpretation wird er eine Aussage treffen. Da bin ich sicher. Mehr weiß ich noch nicht. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir ihn in diesem Konzert hören, werden wir spüren, dass sich große Komponisten mit ihrer Kunst niemals vereinnahmen lassen. Das wird für mich die Kernbotschaft dieses Abends sein.
Mit der Spielzeit 2025 gehen Sie an die Hamburgische Staatsoper. Was bedeutet Ihnen dieser Wechsel?
Vor ein paar Jahren schon wollte ich mich mit meiner Arbeit eigentlich mehr auf ein Theater konzentrieren und mehr in die Tiefe gehen. Und dann kam dieses Angebot aus Hamburg, und es war wirklich perfekt! Es ist genau das, was ich gesucht habe.
Spielt es für Sie auch privat eine Rolle? Dass Sie vielleicht etwas mehr an einem Ort sind?
Ich freue mich auf meine Zeit in Hamburg. Ich konzentriere mich dann auf Hamburg und die Volksoper Wien. Das wird zeitlich wunderbar funktionieren und ist auch inhaltlich sehr spannend: zwei bedeutende Musikstädte, zwei unterschiedliche Musiktraditionen, zwei Opernhäuser mit verschiedenen Schwerpunkten – interessanter kann es kaum werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
KONZERTE
8. Juni 2023, 19.30 Uhr
Kulturpalast Dresden
Giuseppe Verdi: Ouvertüre zur Oper »Macbeth«
Dmitri Schostakowitsch: Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107
Richard Wagner: Ouvertüre zur Oper »Lohengrin«
Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 »Pathétique«
9. Juni 2023, 19.30 Uhr
Kulturpalast Dresden
Giuseppe Verdi: Ouvertüre zur Oper »I vespri siciliani«
Peter Tschaikowsky: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23
Richard Wagner: Ouvertüre zur Oper »Tannhäuser«
Ottorino Respighi: »Metamorphoseon« Modi XII. Tema e variazioni