Andreas Dresen, Ihre Filme zeichnen sich durch eine grundsätzliche Musikalität aus. Ich denke da an »Gundermann«, aber auch an Ihre Zusammenarbeit mit der Band »17 Hippies«. Wie unterscheiden sich aus Ihrer Sicht Film und Oper?
Fundamental! Im Film wird ja höchst selten gesungen. Oper ist gerade deswegen eine der abstraktesten Formen von Theater. Vielleicht reizt mich das Medium genau deswegen, weil es so extrem anders ist. Im Film arbeite ich meist mit fotorealistischen, naturalistischen Settings. Ich kann dicht an die Gesichter ran und auf subtile Art die Psychologie von Figuren erforschen. Beim Theater braucht es eine Übersetzung, es ist ein abstrakter Ort. Ich liebe Peter Brooks Buch »Der leere Raum«. Der Titel sagt eigentlich alles. Ins Theater sollte die Imagination des Zuschauers die Welt hineinprojizieren.
Abstrakt wäre das letzte Wort, das mir zu Ihrer Filmsprache einfällt. Film und Bühne verstehen Sie also als gänzlich unterschiedliche Medien?
Unbedingt. Die Abstraktion habe ich bei all meinen Theaterarbeiten gesucht. Ich komme aus einer Theaterfamilie und bin in Kantinen groß geworden. Ich habe im Theater immer genau das gemocht, dass zwei Menschen auf eine Bühne treten und einen Raum entstehen lassen. Da braucht es nicht viel. Da kann ein einzelner Stuhl die ganze Welt bedeuten. Nach so etwas suche ich immer bei meinen Bühnenarbeiten.
Ihr Vater hat vor allem im Westen Opern inszeniert, Ihr Ziehvater war Theaterregisseur, Ihre Mutter Schauspielerin. Wie präsent war die Oper in Ihrem Leben?
Ich habe eine Zeit lang in Schwerin am Theater als Tontechniker gearbeitet und auch Opern betreut. Ich habe gerade bei den Endproben viel gelernt. Von den Opernarbeiten meines Vater habe ich leider wenige gesehen, weil das alles nicht in meiner Nähe stattfand. Erst war die Mauer dazwischen. Nach der Wende habe ich dann natürlich einige seiner Inszenierungen gesehen. Daher gab es schon eine gewisse Affinität. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, selbst eine Oper zu inszenieren. Das wäre mir nicht im Traum eingefallen.
Und wie ist es dann doch zur ersten Operninszenierung gekommen?
Michael Schindhelm, damals Intendant in Basel, hat mir vier Jahre lang immer wieder Angebote gemacht. Und dann hat er mich mit Don Giovanni gepackt. Das ist einfach eine wahnsinnig tolle Oper. Und die Produktion hat riesigen Spaß gemacht. Ich habe so viel gelernt, dass ich danach wirklich angefixt war.
Und dann haben Sie quasi eine Familientradition, die Ihr Vater Adolf Dresen als Opernregisseur begonnen hat, fortgesetzt. Wie stehen Sie zur Arbeit Ihres Vaters?
Seine Wozzeck-Inszenierung finde ich zum Niederknien. Sie ist grandios gearbeitet, mit einer tollen Bühne. Ich habe sie leider nur als Fernsehaufzeichnung gesehen. Andere Sachen bei ihm sind eher klassisch, traditionell inszeniert. Ich selbst suche da eine stärkere Abstraktion, vor allem beim Bühnenbild. Aber nicht im Erzählerischen, in der Psychologie, da sind mein Vater und ich uns sicher sehr ähnlich. Bei der Form möchte ich aber weg vom realistischen Abbild. Ich würde nie eine Wohnung auf der Bühne nachbauen.
Ist das eine Brechtsche Idee?
Brecht hat mich geprägt. Ich habe in der DDR natürlich auch Felsenstein und Kupfer gesehen. Das ist eine ganz andere Opernschule, aber sehr schauspielaffin. Das finde ich interessant. Ich arbeite gern mit Sängern wie mit Schauspielern, indem ich die psychologischen Bögen suche.
Gibt es da Unterschiede bei der Arbeit mit Schauspielern und Sängern?
Ich kann den Schauspieler ein Ja wie ein Nein spielen lassen, und umgekehrt. Das geht beim Film auch, indem ich einen anderen Subtext gebe. Bei der Oper funktioniert es nur sehr begrenzt. Weil es den Subtext durch die Musik ja bereits gibt. Wenn ich mich dafür entscheide, der Intention des Komponisten nicht zu folgen, muss ich wirklich gute Gründe und Lösungen haben. Sonst funktioniert das nicht. Man zieht da als Regisseur immer den Kürzeren.
Und auf der praktischen Ebene?
Das beginnt schon bei den Probenzeiten. An der Oper habe ich nur vier Wochen, im Schauspiel sieben oder acht. Und so eine Oper ist ein ganz schönes Brett, was den Aufwand betrifft. Da muss ich sehr planvoll an die Arbeit gehen und den Sängern Angebote machen. Mit so vielen Vorgaben bräuchte ich Schauspielern nicht kommen. Im Schauspiel steht der Prozess im Vordergrund, und man erobert sich die Szene gemeinsam Stück für Stück.
Steht dieses planvollere Herangehen bei der Oper der Arbeit beim Film näher?
Beim Film bin ich manipulativer. Als Regisseur kann ich da viel stärker Settings herstellen und Schauspieler in Situationen bringen. Ich löse bei ihnen etwas aus und es muss nur ein einziges Mal funktionieren. Vorausgesetzt die Kamera ist eingeschaltet, aber das liegt ja auch in meiner Macht. Es gibt beim Film Inszenierungstechniken, die im Theater generell nicht funktionieren. Deswegen sind Theater und Film von der Arbeitsweise kaum vergleichbar. Es sind fast zwei verschiedene Berufe.
Ihre Filme drehen sich sehr oft um Außenseiter, Zukurzgekommene, Lucky Looser. Sie inszenieren gerade an der Semperoper Tschaikowskys Pikowaja dama. Finden Sie ihre filmischen Helden in der Oper wieder?
Hermann, die Hauptfigur, ist ja eher ein Unlucky Looser. Er ist der Außenseiter dieser in der Oper präsentierten Gesellschaft. Er sehnt sich nach Teilhabe. Er ist arm. Er traut sich nicht einmal, um die Frau zu werben, die er liebt, weil sie aus einer anderen sozialen Schicht kommt. Und als er sie dann doch bekommt, hat er das Gefühl, dass er ihr nicht das tolle Leben bieten kann, wie der Mann, den sie justament für ihn verlässt. Und so bleibt bei ihm immer so ein schaler Beigeschmack, den Anforderungen der Gesellschaft nicht genügen zu können. Das macht ihn zum sozialen Außenseiter.
Ist es diese Spannung, aus der dann die innere Dynamik der Oper entsteht?
In Hermann entsteht der Traum, durch einen großen Gewinn im Spiel alles besser zu machen. Dann wäre er kein Außenseiter mehr! Letztendlich treibt ihn das in den Wahn und in den Tod.
Wie würden Sie den Wertekanon dieser Gesellschaft beschreiben?
Es ist sicherlich kein Zufall, wie die Oper beginnt: Nämlich auf den repräsentativen öffentlichen Plätzen von St. Petersburg, wo die bürgerliche Gesellschaft flaniert und einen schönen Maitag genießt. Wo Kinder in Zucht und Ordnung gedrillt werden. In diesem Kontext stellt uns Tschaikowsky Hermann zum ersten Mal vor. Als Kontrast zu dieser Welt. Diese Gesellschaft lebt vor allem davon, sich eine Ordnung geschaffen zu haben, die extrem hierarchisch ist. Das sieht man eben an der Kindererziehung an ganz vielen Stellen in der Oper. Auch an der Art, wie Lisa erzogen wird. Da gibt es eine Gouvernante, die sie zurechtweist. Und auch ihre Großmutter, die alte Gräfin, maßregelt sie in ihrer einzigen gemeinsamen Szene – in einem Befehlston, der erschreckend ist. In dieser Gesellschaft hat man sich zu funktionieren, sich einzufügen. Nur so ist man erfolgreich und kann zu Wohlstand kommen. Dieser Kontrast macht Hermann spannend, aber lässt ihn auch verzweifeln.
Verzweiflung scheint mir nicht der Grundtenor Ihrer Filme. Da gibt es eher eine Leichtigkeit der Ausweglosigkeit…
Ich weiß gar nicht, ob das so stimmt. Gerade habe ich einen sehr schweren und dramatischen Film über Hilde Coppi fertiggestellt. Und eine Geschichte wie »Halt auf freier Strecke« ist auch keine leichte Kost. In meinen Filmen kämpfen die Figuren häufig mit den Umständen und manchmal ist das natürlich auch komisch. Bei »Pique Dame« steigert sich Hermann in eine Art Psychose, was ihn noch mehr abdriften lässt aus der Gesellschaft. Aus seinem Außenseiter-Status entsteht eine Krankheitsphysiognomie.
Diese Krankengeschichte entsteht aus den gesellschaftlichen Zwängen?
Ja, sicher. Wieso beginnt die Oper mit militärisch gedrillten Kindern? Besonders im ersten Akt werden diese Zwänge hinreichend vorgeführt. Wir greifen das in der Inszenierung auf und setzen Hermann dazu ins Verhältnis.
Sie sprechen die militärisch gedrillten Kinder der Eröffnungsszene an. Gerade wird Tschaikowsky in Warschau und Kiew nicht gespielt. Warum inszenieren Sie in Zeiten eines russischen Angriffskrieges dennoch diese »Pikowaja dama«?
Das war zunächst eine Entscheidung der Semperoper. Solche Spielpläne entstehen drei Jahre im Voraus. Ich selbst beschäftige mich seit zweieinhalb Jahren mit dieser Oper. Ich finde es aber auch richtig, dass das Haus an dieser Produktion festhält, wie auch viele andere Häuser in Europa. Es wäre doch mehr als dumm, russische Künstler und die russische Kultur für die verheerende Politik eines Herrn Putin und seinen furchtbaren Krieg verantwortlich zu machen. Tschaikowsky hat väterlicherseits übrigens ukrainische Vorfahren. Kunst sollte Menschen zusammenführen. Wir haben hier ein internationales Ensemble mit Künstlern aus Russland, der Ukraine, Litauen, Israel, den USA, Schweden, Armenien, den Niederlanden und natürlich Deutschland. Auf den Proben wird Russisch, Englisch und Deutsch gesprochen. Was kann man sich Schöneres vorstellen? Das ist unser utopischer Gegenentwurf zu Krieg und Gewalt!
Und das ändert sich auch nicht durch die Vereinnahmung der russischen Kulturgeschichte durch Putin?
Das versuchen Diktatoren doch immer gerne. Es ändert aber nichts daran, dass es sich um Meisterwerke der Weltkultur handelt. Ich werde diese Aufführung jedenfalls nicht für aktuell-politische Kommentare nutzen. Dann wäre sie übermorgen schon Schnee von gestern.
»Pique Dame« – Premiere am 1. Juli 2023.
Weitere Vorstellungen am 5., 8., 12. und 15. Juli und dann wieder im Herbst. Karten ab 37,- EUR.
Musikalische Leitung; Mikhail Tatarnikov
Inszenierung: Andreas Dresen
Mitarbeit Regie: Frauke Meyer
Bühnenbild: Mathias Fischer-Dieskau
Kostüme: Judith Adam
Licht: Fabio Antoci
Choreografie: Michael Tucker
Chor: André Kellinghaus
Kinderchor: Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie: Benedikt Stampfli