Die Nacht gebiert Erinnerungen und Ungeheuer, und alle ihre unentscheidbaren Zwischenstufen. So verliert sich die alte Gräfin direkt nach der Pause mitten im zweiten Akt von »Pikowaja Dama« in der Semperoper in nächtlicher Alterseinsamkeit. Evelyn Herlitzius gibt dieser Gräfin eine innere Gebrochenheit, die ihrer Härte und Bitterkeit in nichts nachsteht. Im lautmalerischen “Je sens mon coeur qui bat, qui bat” aus André Grétrys Löwenherz-Oper schlägt zugleich der Puls einer längst vergangenen mädchenhaften Koketterie und das altersschwache Herz, das nur wenige Momente später mit einem letzten Schlag verstummen wird. Allein an der Rampe, ins Publikum blickend, gelingt Herlitzius mit der ihr eigenen Präzision ein Theaterwunder, in dem sich Lust, Leben und Tod begegnen und sich die Abgründe der großen Menschheitsfragen öffnen. Wie Erda stellt sie uns alle bloß, füllt den Raum, erfindet das Theater handstreichartig neu. Wer am Theater zweifelt oder verzweifelt, findet es hier wieder.
Und zum Zweifeln und Verzweifeln hat man bei dieser Neuinszenierung von Tschaikowskys »Pikowaja Dama« in der Regie von Andreas Dresen leider allen Grund. Von seinem Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau lässt er sich ein Karussell dunkler Wände auf die Bühne stellen, die umeinander kreisen, wechselnde Räume erschaffen und der Imagination des Publikums freien Raum geben sollen. In der Realität drängen sie die Protagonisten der Oper über weite Strecken einfach nur Richtung Graben und verleiten zu einem ermüdenden Rampentheater. Dresen möchte Hermann als Außenseiter darstellen, den das gesellschaftliche System langsam in den Wahnsinn treibt. Jedoch scheint die auf der Bühne gezeigte Gesellschaft weder bedrohlich noch mächtig. Es ist eher eine operettenhafte Soldadeska an der Grenze zur sympathischen Lächerlichkeit. Da werden Sonnenbrillen gelupft, mit Regenschirmen gerudert und immer wieder wird burlesk in konzentrischen Kreisen ein bisschen marschiert …
Unplausibel wie die gesellschaftliche Parabel bleibt auch die Liebesgeschichte zwischen Lisa und Hermann. Ihre Leidenschaft erschöpft sich in leeren Pathosgesten. Das mag auch seine musikalischen Gründe haben. Vida Miknevičiūtė und Sergey Polyakov sind gleichermaßen herausragend wie inkompatibel. Auf der einen Seite steht der metallisch klar-kühle Glanz der Litauerin, die klanglich in Richtung Brünnhilde strebt – mit Salome und zuletzt als Sieglinde im Ring an der Lindeoper feierte sie Erfolge im deutschen Fach. Der karamellweiche Schmelz ihres Partners hingegen ist klanglich im italienischen Fach beheimatet.
Musikalisch ist dieser Abend solide gearbeitet. Mikhail Tatarnikov betont die modernen Brüche der Partitur zwischen Mozartzitat und spätromantischem Orchesterklang. Aus dem durchweg sehr gutem Ensemble sticht vor allem Michal Doron als Polina hervor. Klangkraftzentrum sind aber Staatsopernchor und Kinderchor, die sich durch die kontinuierliche Arbeit von André Kellinghaus und Claudia Sebastian-Bertsch endgültig aus allen pandemiebedingten Schwächen herausgesungen haben.