„U n s e r e K a p e l l e.“ Das Bewusstsein des Stolzes liegt für uns Dresdner in dem Wort, des Stolzes, etwas zu besitzen, worum man uns beneidet, das man uns nicht nachmachen kann, weil es nicht etwas aus dem Stegreif Geschaffenes, sondern etwas organisch Gewordenes, im Laufe der Jahrhunderte Herausgewachsenes ist, weil sich hierin nicht nur der Kulturstand unserer eigenen Zeit spiegelt, sondern weil hierin die großen Kulturen vergangener Zeiten irgendwie einen Niederschlag hinterlassen haben; einen Niederschlag, der uns Nachfahren jetzt als Geschenk der Götter in den Schoß fällt. Zugleich liegt in dem Wort auch ein tiefes Gefühl des Dankes für all das Herrliche, Schöne, für all das Erhebende und Erquickende, was wir jahraus, jahrein im Opernhaus erleben dürfen, wenn die Führung der Ereignisse der Kapelle anvertraut ist; eines Dankgefühls, dessen wir uns immer erst dann so recht bewußt werden, wenn wir an Leistungen anderer Orchester abzuschätzen Gelegenheit haben, wie gut wir in der Hut „unserer Kapelle“ gebettet sind. Denn für uns, die wir tagaus, tagein die Kapelle hören, ist ihr Spiel ja etwas Gewohntes geworden; wir staunen nicht mehr, wir bewundern nicht mehr, wir genießen nur noch, als ob es ein verbrieftes Recht für uns Dresdner sei, derartige zarte Klänge des Piano, derartig kraftgeschweltes, abgerundetes Forte, derartig auf der Goldwage [sic] des feinsten Empfindens abgewogene Übergänge, derartig persönlich empfundenes und doch ins Ensemble eingepaßtes „Melodierieren“, derartige blühende Klangzauber tagaus, tagein auf uns wirken lassen zu können. Das Staunen, die Bewunderung überlassen wir denen, die von draußen kommen, und diese haben wahrlich von jeher nicht mit Worten der Bewunderung gegeizt, wenn sie von der Dresdner Kapelle sprachen.
So pries am 14. September 1923 der Musikkritiker Eugen Thari im Dresdner Anzeiger, der ältesten Tageszeitung der Stadt, das Geburtstagskind, die Sächsische Staatskapelle. Der Kritiker betonte dabei, dass es ja nicht nur die Dresdner selbst seien, die „ihre“ Kapelle bewunderten und schätzten, sondern dass ihr legendärer Ruf ihr in der gesamten restlichen musikalischen Welt vorauseile; übrigens nicht erst seit der Ära Schuch (1872–1914), sondern schon, wie Thari schrieb, seit Johann Georg Pisendel zweihundert Jahre früher das Amt des Konzertmeisters übernommen hatte. Dieser Ruf war über die Zeit Hasses, Naumanns, Webers und Wagners eben bis hin zu Schuch getragen und stetig gemehrt worden, so dass – wie die Zeitung berichtet – bei dem „ungezwungenen, von herzlichen und frohen Reden gewürzten Bierabend“, der auf das Festkonzert anlässlich des Jubiläums folgte, ein Geheimrat Dr. Heyn von einer Unterhaltung „in Capri“ berichten konnte, in dem das Orchester, „unser Orchester“ eben, von seinem Gesprächspartner als „illustrissima capella da Dresda“, als „höchst glanzvolle Kapelle aus Dresden“ bezeichnet worden war. Umso erstaunlicher war dieser weithin tragende Ruf des Orchesters, da ja prinzipiell galt: wer die Dresdner Kapelle einmal im Konzert hören wollte, hatte sich bitteschön nach Dresden zu begeben!
In der großen Kleinstadt (oder kleinen Großstadt?) Dresden fiel die zum 375. Geburtstag der Staatskapelle geplante Festwoche „mit großen Konzert- und Opernaufführungen“ allerdings in eine Zeit der grassierenden Hyperinflation. Das Briefporto etwa, das 1918 auf 15 Pfennige festgelegt worden war, stieg 1920 auf 20 Pfennig, 1921 erst auf 40, dann auf 60 Pfennig und begann dann über das Jahr 1923 schwindelerregend schnell weiter anzusteigen: im Januar auf 50 Mark, im Juni auf 100 Mark und im August auf 1000 Mark. Zum Kapellgeburtstag Mitte September – das Orchester war gerade auf einer Jubiläums-Gastspielreise nach Salzburg gewesen, wo das Publikum seine ganz ähnlich dem Zusammenbruch entgegenkriselnden Papierkronen für ein Konzertprogramm von Wagner (»Meistersinger«-Vorspiel), Weber (Oberon-Ouvertüre), Max Reger (Mozart-Variationen) und Schubert (»Unvollendete«) hergegeben hatte, stieg das Briefporto auf 75.000 Mark, Anfang Oktober kostete eine Briefmarke zwei Millionen und am 9. November schließlich eine runde Milliarde Mark. Wohl dem also, der 1923 womöglich einen Schrebergarten und fürs Geistige vielleicht ein schon lange früher angezahltes Abonnement für eine Konzertreihe besaß!
Aber natürlich hatten die Dresdner in den Septembertagen mehrheitlich andere Sorgen, als sich um eine kulturvolle Abendgestaltung zu bemühen. Dennoch wollte die Kapelldirektion das Jubiläum nicht ganz ausfallen lassen. Zwar ließ „die Not der Zeit […] die Pläne zusammenschrumpfen auf das bekannte Programm, das als Feier des eigentlichen Gründungstages, des 22. September, ein Festkonzert mit ausgewählten Werken im Opernhaus vorsah.“ „Doch sei dem, wie ihm sei, das Konzert […] war ein Glanzabend für die Kapelle und für uns, das Publikum, eine Quelle hervorragender musikalischer Genüsse. Schon als der Vorhang sich hob und die Kapelle in großer Besetzung sehen ließ, brach der Beifallsjubel des Publikums los. Man freute sich, einmal Gelegenheit zu haben, der Kapelle als Körperschaft Dank abstatten zu können, und gab dieser Freude nachhaltig Ausdruck.“ (Dresdner Anzeiger, 24.9.1923)
Vor diesem historischen Vorhang nun leuchten aktuelle Sorgenthemen des Dresdner Musikpublikums auf. Ein sich in seiner Stumpfsinnigkeit festgefressener Krieg in Europa spiegelt sich in der programmatischen Ausrichtung von Museen und Konzertveranstaltern; er beherrscht nicht nur viele Pausengespräche, sondern beinflusst auch die Einladungspolitik der großen Opernhäuser und Ensembles. Daneben bedrückt viele die momentane gezügelte, aber doch merkbare Inflation in vielen Lebensbereichen; die eigenen Kinder streiken laut fürs Klima und die eigenen Eltern sehen sich den jüngsten absurden Steigerungen der Pflegekosten ausgeliefert… Die Kummerliste ließe sich sicherlich fortsetzen. Insgesamt steckt das Dresdner Konzertleben zum 475. Geburtstag der Sächsischen Staatskapelle in einer Art lethargischer Post-Corona-Stagnation, die Zeichen einer generellen Verunsicherung trägt, wie, wie oft und überhaupt ob man in diesen Tagen eigentlich wieder Kultur genießen solle und dürfe. Fast erstaunlich und jedenfalls leise ermutigend, dass das Jubiläumskonzert der Kapelle seit Wochen ausverkauft ist – auch wenn beispielsweise rund um die ursprünglich für den November geplante große Asientournee nach China und Taiwan momentan offenbar noch organisatorische oder kulturpolitische Fragezeichen stehen.
In der Formulierung „Unsere Kapelle“ spiegele sich „der Kulturstand unserer eigenen Zeit“, schrieb Eugen Thari vor hundert Jahren, und meinte es dankbar und bewundernd. Den Dank an unsere heutige Kapelle und die ungebrochene Bewunderung drücken wir Dresdner gern aus, verbunden mit dem herzlichen Wunsch, dass sich in ihr in den folgenden 25 Jahren nicht nur sehnlich die großen Kulturen vergangener Zeiten spiegeln möchten, sondern dass sie es schaffe, für ein heutiges Publikum ihre Relevanz neu zu entdecken und zu festigen; so dass wir auch zum 500. Geburtstag noch sagen werden: U n s e r e K a p e l l e ist für Dresden, für Sachsen, ist für den Kulturstand unserer Zeit unverzichtbar.
Festwoche zum 475. Kapellgeburtstag
In ihrer Jubiläumssaison blickt die Sächsische Staatskapelle Dresden auf Höhepunkte ihrer 475-jährigen Geschichte zurück. Rund um das Sonderkonzert am 22. September – dem Gründungstag der Kapelle – präsentiert sie in verschiedenen Konzertformaten Werke, die untrennbar mit ihrer Historie verbunden sind. Im Verlauf der Jubiläumswoche werden zudem zwei Ausstellungen eröffnet, die unterschiedliche Aspekte der Kapellgeschichte beleuchten.
Die Jubiläumswoche der Sächsischen Staatskapelle Dresden beginnt am 19. September mit dem 1. Kammerabend der Saison. Auf dem Programm stehen dann mit Clara Schumann, Johannes Brahms und Richard Strauss drei Ehrenmitglieder des 1854 gegründeten Tonkünstlervereins, aus dem die bis heute bestehende Kammermusikreihe der Staatskapelle hervorging.
Auch im Sonderkonzert anlässlich des 475. Gründungstags der Kapelle stellt Chefdirigent Christian Thielemann drei Hausgötter ins Zentrum, die aus der Orchestergeschichte seit dem 19. Jahrhundert nicht wegzudenken sind: Carl Maria von Weber, Richard Wagner und Richard Strauss. Webers »Jubel-Ouvertüre« erklang erstmals 1818 – zum 50. Thronjubiläum von König Friedrich August I. 27 Jahre später dirigierte Wagner seinen »Tannhäuser« in Dresden. »Also sprach Zarathustra« gehörte 1897 zu den ersten Tondichtungen des jungen Richard Strauss, die in Dresden erklangen und die lange künstlerische Zusammenarbeit begründeten.
In der 1. Aufführungsmatinée unter der Leitung der in Taiwan geborenen Dirigentin Yi-Chen Lin interpretiert Sebastian Fritsch, Konzertmeister der Violoncelli, Dmitri Schostakowitschs Erstes Cellokonzert. Er tritt damit in berühmte Fußstapfen: In der deutschen Erstaufführung durch die Staatskapelle Dresden 1960 spielte niemand Geringeres als Mstislaw Rostropowitsch.
Nicht nur die Konzerte, sondern auch die Oper steht im Zeichen des Kapelljubiläums: Axel Kober und Christoph Gedschold leiten am 21. und 23. September zwei Vorstellungen des »Freischütz«, den Carl Maria von Weber während seiner Zeit als Hofkapellmeister in Dresden komponierte.
Zum Jubiläumsprogramm gehören zudem zwei Ausstellungseröffnungen, die unterschiedliche Aspekte der Kapellhistorie in den Fokus rücken. Ab dem 23. September präsentiert das Historische Archiv der Sächsischen Staatstheater eine Ausstellung mit dem Titel »Die Sächsische Staatskapelle persönlich«. Mit Unterstützung der Gesellschaft der Freunde der Staatskapelle Dresden e.V. stellt die Ausstellung die jüngste Kapellgeschichte am Beispiel von 19 ausgewählten Kapellmitgliedern der letzten einhundert Jahre vor. Ab dem 27. September eröffnet die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden in der Ausstellung »475 Staatskapelle @SLUB« Einblicke in ihr reiches Archiv und vollzieht anhand vielfältiger Quellen nach, wie diese Überlieferung das Bild der Kapelle prägte und weiter prägt.
Weitere Infos zur Festwoche auf der Website der Staatskapelle Dresden.