Der Dokumentarfilm DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK über die weitgehend unbekannte Komponistin und Musikerin Dora Pejačević (1885 bis 1923) hat jetzt im Programmkino Ost Premiere. Sie lebte und arbeitete sehr gern auch in Dresden.
Eigentlich ist es nur ein Liedchen, doch es bekommt nach und nach einen tieferen Sinn. Es beginnt, nicht nur dem Namen nach, als Canzonetta für Klavier und Violine, geht bald aber in der Vortragsbezeichnung zu Andante Religioso über. Geschickt. Widersprüchlich vielleicht? Erstaunlich allemal.
„Canzonetta op. 8“ heißt das Stück von Dora Pejačević aus dem Jahre 1899. „Wunderbare Musik, mächtig in der Komposition“, sagt der ukrainische Geiger Andrej Bielow. Dora Pejačević war 14 Jahre jung, als sie ihre Canzonetta erschaffen hat und wieder kommt man ins Staunen. Bis 2007 hatte Bielow von dieser Künstlerin noch nie etwas gehört. Es eint ihn mit so vielen Klassikfreunden, -kennern und nicht zuletzt auch Kollegen und Kolleginnen, wenn sie nicht gerade aus Kroatien stammen. Es ist ein Film, der jetzt dem Wunsch einer großartigen Entdeckung in größerem Maße nachkommen will. DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK von Kyra Steckeweh und Tim van Beveren ist seit Ende 2022 zumeist in Einzelvorstellungen zu sehen. Umso deutlicher sei an dieser Stelle auf die Dresdner Premiere im Programmkino Ost verwiesen, einer Spielstätte, die sich stets offen zeigt und wach für diese sehr speziellen Filme, die nie Selbstläufer sind. Die im Vorfeld etwas Läuten brauchen, um für sie wach zu machen. Das knapp zweistündige Dokumentarwerk allein rechtfertigt das Interesse, ist es doch stilistisch von Güte, reich an Fakten und gediegener optischer Qualität. DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK bringt die Begegnung mit vielen hochinteressanten Menschen aus Musikwissenschaft und Kunst, führt an Orte in Europa, die für Lebensstationen einer unterschätzten Künstlerin stehen, begeistert als Fleißwerk durch die anregende Montage von audiovisuellem Archivmaterial, zeitgenössischen Reisebildern und Gesprächen. Über allem aber schwebt diese wirklich inspirierende Musik von Dora Pejačević. Sie schürt, im Film nur angespielt, die Lust aufs Mehr und jene aufs Genauer.
Man bescheinigte ihr beim Spielen von Klavier und Violine einen intensiven Drang zum Autodidaktischen, zum Hören, Nachhören, Lernen und sogleich zum Erschaffen eigener Stücke. Am Ende ihres kurzen Lebens – Dora Pejačević starb mit nur 37 Jahren – werden sich fast 60 Werke im Nachlass befinden, darunter eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Lieder und kammermusikalische Kompositionen. Dieser Nachlass befindet sich im kroatischen Musikinstitut in Zagreb, das im Jahr 2020 durch ein schweres Erdbeben erheblich beschädigt wurde und in Teilen öffentlich nicht mehr zugänglich ist. In Kroatien, wo die Pejačević zwar nicht geboren, aber aufgewachsen ist und in einem Einzelgrab neben der Familiengruft beerdigt wurde, soll sie, ist im Film zu hören, fast so bekannt sein wie Mozart. Kein Wunder, dass DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK eben in Slawonien im Osten Kroatiens seinen Anfang nimmt. Kein Wunder auch, dass es dort mit „Kontesa Dora“ (1993, Regie: Zvonimir Berkovic) auch einen Spielfilm über Dora Pejačević gibt.
In modernen Zeiten wie den heutigen sind biografische Fakten schnell nachzusehen, auch im Falle Pejačević sind sie mit gar nicht mal so vielen schnellen Klicks zu finden: Geburt in Budapest hinein in eine adlige Familie, erste Lehrer, frühe Freundinnen, Umzug zunächst in ein Schloss nahe Naŝice, dann in die prosperierende Kulturstadt Zagreb, erste private Auftritte in Soirees, verlegte Kompositionen ab 1906, bevor es die junge Frau erstmals, neben München, nach Dresden zieht, wo sie im Hause der Gräfin von Schall-Riaucour wohnt und privat beim in Dresden geborenen Klavierlehrer Percy Sherwood sowie bei Henri Petri studiert. Wiederholt kehrt sie fortan an die Elbe zurück, hier wird auch ihre erste und einzige Sinfonie uraufgeführt, am 10. Februar 1920 unter Edwin Lindner im legendären, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gewerbehaus an der Ostra-Allee. Am 19. April 1921 folgt dort zudem die Uraufführung von Dora Pejačevićs „Klaviersonate b-Moll“ mit Pianist Walther Bachmann – von euphorischen Kritiken begleitet.
Dass DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK für eine dramaturgisch wichtige Säule nicht in Dresden verbleibt, sondern nach Leipzig geht, mag mit Kyra Steckeweh zusammenhängen und der Tatsache, dass sie dort als Pianistin lebt und arbeitet. Es liegt auch an der Tatsache, dass es nach der Dresden-Premiere der „Sinfonie fis-Moll op. 41“ eine Aufführung am Leipziger Gewandhaus geben sollte, zu der es nie kam, weil Kapellmeister Arthur Nikisch zuvor verstarb. Erst Kyra Steckeweh selbst und Regisseur Tim van Beveren regten 100 Jahre danach die Leipziger Erstaufführung an, wobei im Film eine erstaunliche, wenngleich nicht sonderlich überraschende Aussage zu hören ist. Tobias Niederschlag, Leiter des Konzertbüros Gewandhaus, sagt nach einem ersten, durchaus begeisterten Reinhören in Pejačevićs Sinfonie, dass es weiterhin „im Konzertbetrieb nicht ganz einfach“ sei, „den Kanon der angestammten Werke zu durchbrechen“. Es spiele dabei kaum eine Rolle, ob es sich um weibliche oder männliche Komponisten handele, die diesem Kanon der Tradition beitreten könnten. Es ginge ganz allgemein um Überzeugungsarbeit nach dem Kennenlernen. Allerdings ist und bleibt eben die Rede von 98 Prozent Männer als aufgeführte Urheber.
Das Leipziger Gewandhausorchester nahm sich der Pejačević-Sinfonie an, die öffentliche Aufführung im Februar 2022 unter Kapellmeister Andris Nelsons wurde allerdings durch böse Töne von Virus C auf tragische und am zweiten Abend, wie sich herausstellen soll, irrtümliche Weise verhindert. Das erste Konzert zumindest konnte es geben. Und die Kameras liefen dort zur Probe …
Dresden übrigens wird noch ein weiteres Mal in Dora Pejačevićs Leben eine entscheidende Rolle spielen. Nach einer zutiefst unglücklichen ersten Liebe, immerwährenden Konflikten mit der Mutter, einer sehr vagen, gottlob hier nicht näher dechiffrierten Beziehung zu einer sehr guten Freundin namens Sidonie, kam Dora mit ihrem Ehemann Ottomar Lumbe Anfang der Zwanziger nach Dresden zurück. Gemeinsam bezogen sie eine im Originalzustand erhalten gebliebene Villa in der Josefstraße 7 (heute Caspar-David-Friedrich-Straße, Nähe Wasaplatz), bevor es 1922 nach München ging, wo die Künstlerin ihr erstes und einziges Kind bekam und an den Folgen der Geburt im März 1923 verstarb.
Ein eingespieltes Team
DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK lebt von seiner ruhigen, ganz den Künsten zugewandten Atmosphäre, von vielen erhellenden originalen, auf Deutsch verfassten Briefen (mit dem titelgebenden Zitat „Überall will ich Inhalt und Wert haben“), eingesprochen von hier wie generell prägnanten und doch zurückhaltenden Stimmen, von auch beim Enkel Markus Lumbe gefundenen Fotos beziehungsweise erstmals entwickelten Glas-Negativen, von achtsam nachgestellten Szenen und zeitzeugenden Zitaten aus Stefan Zweigs Buch „Die Welt von Gestern“. In der Riege der Musikwissenschaft „gewinnt“ ganz klar die betagte kroatische Professorin Koraljka Kos mit ihrer auch verschmitzten Art. Interessant ist zudem die historische Einordnung von Dora Pejačević als Frau ihrer Zeit, als zwar kontaktscheue, aber wissbegierige, ebenso Politik, Sprache, Literatur und Gesellschaft offen zugewandte Seele, die zu Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff Nähe suchte, eben Rilkes und – wie selten! – Texte von Friedrich Nietzsche vertonte und sich an einigen Aussagen von Karl Kraus zu reiben wusste. So etwas wie „Frauen sollten auf eigene Kreativität verzichten“, konnte einer Dora Pejačević nur aufrecht missfallen.
Kyra Steckeweh, die vor der Kamera viele Pejačević-Stücke selbst interpretiert, und Tim van Beveren sind – das ist, wenn sie als personifizierter Kompass selbst auftauchen, markant zu sehen – ein eingespieltes Team. Schon für den Film „Komponistinnen“ von 2018 begaben sie sich auf europäische Spurensuche zu Mel Bonis (1858-1937), Lili Boulanger (1893-1918), Fanny Hensel (1804-1847) und Emilie Mayer (1812-1883), die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Männerdomäne Gehör verschaffen wollten, es nur bedingt schafften, aber zum Teil grandiose Werke hinterließen. Unter anderem gab es für „Komponistinnen“ den Opus Klassik sowie den New York Movie Award und die Auszeichnung als Bester Film auf dem Alive International Documentary Film Festival Los Angeles.
DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK weitet den Horizont noch einmal neu, weil sich der Dokfilm eben auf nur eine Künstlerin konzentrieren kann und damit umfassende Einblicke und tieferes Ausloten erlaubt. Natürlich kommt er, eben bedingt durch männlich geprägte Unaufmerksamkeiten und Ignoranzen, spät, aber in diesem Falle nun wirklich nicht zu spät.
Gundel Jannemann-Fischer übrigens, die im Gewandhausorchester Englischhorn spielt und sich besonders über die vielen Soli in der Sinfonie gefreut hat („Ach, schön, ich habe was zu tun!“), erinnert die Musik von Dora Pejačević an Rachmaninoff. Und: „Ich hatte im ersten Moment Filmmusik vor Augen.“
Dresden-Aufführung von DORA – FLUCHT IN DIE MUSIK am Freitag, 3. November, 19.15 Uhr im Programmkino Ost, Dresden (Kartenvorbestellung unter 0351-310 3782 sowie www.programmkino-ost.de). Kyra Steckeweh und Tim van Beveren sind zum Publikumsgespräch anwesend.