Nur einmal, mitten in einer Pianissimo-Stelle des Vorspiels, da rumpelt es kurz laut und blechern hinter dem geschlossenen Vorhang. Theater ist Handwerk, und wo gehobelt wird, ist es manchmal unfreiwillig laut. „Provinztheater“ murmelt mein konservativ gekleideter Sitznachbar, wobei er das „B“ und das „D“ so weich ausspricht, wie man es rund um die Elbauen tut. Es bleibt der einzige provinzielle Einwurf des Abends.
»Die Frau ohne Schatten« ist ein Mammutwerk. Wenn diese Bezeichnung all zu gern als Beschreibung für lange oder üppig besetzte Opern genutzt wird – hier trifft sie zu: Strauss und Hofmannsthal arbeiteten seit 1911 an dem Stoff, 1917 war das Stück fertiggestellt. Erst 1919 gelang eine Uraufführung in Wien. Dazwischen: Absagen von Oskar Kokoschka als Bühnenbildner, ein speziell verfasstes Buch mit Anmerkungen für die Regie und eine völlig vermasselte Erstaufführung im von Strauss so geliebten Dresden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Das Werk erfordert enorm gute Sänger, die Orchesterbesetzung ist komplex (chinesische Gongs, Rute, Wind- und Donnermaschine, Orgel, Glasharmonika), das Bühnengeschehen voller technischer Finesse. Der Bühnenbildner Alfred Roller schrieb kurz nach der Uraufführung an Hofmannsthal: „Die Bühne scheint eine so dürftige Einrichtung zu sein, daß man für jeden szenischen Vorteil einen Nachteil mit in Kauf nehmen muß…“
Geniestreiche sind ihrer Zeit voraus. Es mussten über einhundert Jahre vergehen, um für die Regieanweisungen und Bühnenveränderungen, wie sie gewünscht waren, die nötigen technischen Mittel zur Verfügung zu haben. Die neue »Frau ohne Schatten« in Dresden erfüllt die innigsten Wünsche des Triumvirats Strauss/Hofmannsthal/Roller. Unter der Regie von David Bösch und in den Bühnenbildern von Patrick Bannwart ist hier eine dreieinhalbstündige Achterbahnfahrt durch Psyche und Filmgeschichte entstanden. Bösch bedient sich zahlreicher Zitate aus Filmen von Fritz Lang, Sergej Eisenstein, Alfred Hitchcock, Andrej Tarkowski aber auch moderner Horrorfilme wie »The Ring« und »Saw«. Dass er mitunter auch mal zu dick aufträgt und die Projektionen auf den weißen Vorhängen, welche die Traumsequenzen symbolisieren, das Bühnengeschehen noch verdeutlichen, schadet nicht. Denn das opulente Orchester unter Christian Thielemann hätte jeder anderen Herangehensweise an die Bühnenhandlung die Show gestohlen. Ohne falscher Zurückhaltung lässt sich sagen: zum ersten Mal seit Thielemanns Antritt in Dresden sind Bühnengeschehen und Orchesterklang kongenial miteinander verwoben.
Dabei ist die Handlung so komplex, dass es einen Bogen braucht, um die vielen Details, Andeutungen, Metaphern und Entwicklungen der Figuren logisch miteinander zu verknüpfen, ohne dabei zu verkopft zu werden und auf das Wesentliche, die Emotion, zu verzichten. Das gelingt Regie und Orchester hier vollends: Es gibt Momente an dem Abend, die lassen selbst erfahrene Theatergänger erschaudern. Das Geschehen rund um das Färberhaus ist schon fast körperlich unangenehm. Wenn der Färber Barak im ersten Akt vom Markt heimkehrt und das veränderte Wesen seiner Frau besingt, dann ist es ein nachfühlbarer, realer Schmerz der Entfremdung. Oleksandr Pushniak ist kein Rampensänger, er spielt mit den Details seines Kostüms so vielseitig wie er die verschiedenen Timbres seiner Stimme für Freude, Trauer, Schmerz nutzt. Ihm gegenüber dabei seine Frau, Miina-Liisa Värelä – verzweifelt, furchteinflößend. Wenn sie ungeborene Säuglinge in einen Eimer mit Bleiche befördert, möchte man schreien vor Ekel. Das absolut bombastische Finale des zweiten Aktes, orchestral tränenrührend, das sängerische und spielerische Miteinander der Weltstars Camilla Nylund und Evelyn Herlitzius in allen Facetten hoch anspruchsvoll, das Bühnengeschehen dabei eine Mischung aus Hitchcocks »Die Vögel«, Christian Alvarts »Oderbruch« und Baran bo Odar’s »Dark« – einfach nur irre gruselig.
Aber es ist nicht immer die Filmperspektive, die David Bösch auf die Bühne gebracht hat. Die vielen lyrischen Momente der Oper wirken wie das Geschehen in den Tuschewerken von Andrey Klassen. Stundenlang betrachten und auseinandernehmen ließen sich die Duette mit den zahlreichen Details. Das Zusammenspiel der Sänger in dem Bühnenbild mit schnell wechselndem Lichteinsatz führt die Zuschauer in Sekundenschnelle aus freudiger, bachanaler Euphorie in Kiefer’sche Betontristesse.
Musikalisch ist das Stück ein Cocktail aus »Zauberflöte«, »Freischütz«, »Elektra«, »Rosenkavalier« und »Lulu«. Jede dieser Opern für sich genommen ist musikalisch schon komplex genug. Die Staatskapelle changiert diese Balance bis auf wenige Ausnahmen in den Holzbläsern geübt-routiniert. Die Musik, das Schmierfett für die szenischen Emotionen, leistet alles, um der Komplexität der Handlung einen großen Bogen und viele kleine Emotionen zu geben.
Das Publikum belohnt die Beteiligten nach diesem langen Abend mit überbordenden Ovationen. Ein wenig Trennungsschmerz ist auch dabei. Ein Gesprächsfetzen, in der Pause aufgeschnappt: „Nächstes Jahr geht es hier weniger glamourös zu“. Dabei geht es gerade nicht um Glamour. Wenn es ein Stück gibt, das in seiner Komplexität und Verwirrung den aktuellen Zeitgeist widerspiegelt, dann ist es die »Frau ohne Schatten«. Wenn es eine Inszenierung gibt, die die antiquierte Gattung der Oper einem jungen, netflixverwöhnten Publikum näher bringen kann, so ist es diese. Weil sie keine Antworten liefert, sondern Fragen stellt. Weil sie nicht gefallen will, sondern neugierig macht. Weil man echtes Handwerk auch rumpeln hören darf. Das sind die wesentlichen Quanten, um aus einem Opernbesuch mehr zu machen als das alljährliche Ausführen des Hochzeitsanzugs und das obligatorische Selfie vor Ferdinand Kellers Schmuckvorhang. Vielleicht tut da ein bisschen weniger Glamour sogar ganz gut.