Die Musik triumphiert über das Wort: Wagner wächst über sich selbst hinaus, Bruckner über provinzielle Abgründe
Das Motto der diesjährigen Dresdner Musikfestspiele soll nach Weite klingen, nach Ausblick und endloser Offenheit: »Horizonte«. Seit dem Eröffnungskonzert am 9. Mai und noch bis zum 9. Juni 2024 wird das Publikum mit einem vielfältigen Angebot in knapp sechzig Veranstaltungen gelockt, die an insgesamt 21 Spielstätten ausgetragen werden und stilistisch jede Menge Vielfalt bieten. Der Cellist Jan Vogler, seit 2008 Intendant der 1976 gegründeten Musikfestspiele, will mit dieser breit angelegten Melange angesichts akuter gesellschaftlicher Umbruchprozesse verstärkt auch eine intensive Vermittlungsarbeit mit Hilfe von Kultur betreiben.
„Kaum ein Mensch auf der Welt ist nicht durch Musik erreichbar“, so der 60jährige Künstler vorab, „Musik bringt die Menschen zusammen, da sie hier einander zuhören, statt gegeneinander zu reden.“ Neben dieser unschätzbaren Wirkmacht in sämtliche gesellschaftlichen Bereiche stehe das Festival Vogler zufolge auch dafür ein, in Dresden ein weltoffenes Klima zu vermitteln. Angesichts der gegenwärtigen Nachrichtenlage gewiss kein leichtes Unterfangen.
Umso wünschenswerter wäre es gewesen, den musikalischen Auftakt mit einer ähnlich redegewandten Persönlichkeit wie dem kundigen Intendanten einzuleiten. Dresdens Oberbürgermeister war offenbar krankheitsbedingt verhindert, die Kulturbürgermeisterin durfte vermutlich aus parteipolitischen Gründen nicht auftreten; so blieb es einem hemdsärmelig daherredenden Stellvertreter überlassen, das Publikum nebst dem Gastorchester mit peinlichen Oberflächlichkeiten zu brüskieren. Wer da nach mehr als einer halben Minute noch zugehört hat, dürfte zutiefst genau das empfunden haben, wofür das Wort »Fremdschämen« steht. Kernpunkt des Redeversuchs ist es gewesen, Dresden als „schönste Landeshauptstadt Deutschlands“ hinzuschwätzen. Wie originell.
Wagner wird verbal verständlich
Am Abend zuvor gab es schon einmal Wortkunst, Wortkunst freilich ganz anderer Art: Richard Wagners Oper »Die Walküre« erfüllte den Kulturpalast in einer so textverständlichen Fassung wie nur selten und hat die im vergangenen Jahr mit dem Vorabend »Das Rheingold« aufgenommene Einstudierung der Tetralogie »Der Ring des Nibelungen« in einem wissenschaftlich begleiteten Originalklang-Projekt durch Musikerinnen und Musiker des Dresdner Festspielorchesters und von Concerto Köln unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano fortsetzt.
Begleitet wird dieses höchst ambitionierte Unterfangen wiederum mit einer Reihe von Gastspielen im In- und Ausland. Bei derartigen Aufführungen gibt es durchaus Stimmen, die meinten, Wagners Musiktheater habe Theater, also Regie, gar nicht nötig. So auch in Dresden, wo das Publikum bereits nach dem ersten Aufzug schier aus dem Häuschen gewesen ist und offenkundig keinerlei szenische Ausdeutung vermisst hat.
Stattdessen geriet dieser Vorabend der Musikfestspiele geradezu kammermusikalisch luzide, war von liedhaft intimen Momenten geprägt und überzeugte mit großartiger Erkennbarkeit der Leitmotive im Wagnerschen »Ring«. So durchhörbar und dennoch effektvoll gestaltet erklingt dieses Opus wahrlich nur selten.
Neben Kent Naganos umsichtiger Gestaltung, die jegliche Bühnenhandlung durch rein musikalische Dramatisierung zu kompensieren vermochte, ist dies vor allem ein Verdienst der Solistenriege gewesen. Ob Claude Eichenberger als pronociert gestrenge Fricka, ob Simon Bailey als inbrünstig sonorer Wotan, ob Maximilian Schmitt als kraftvoll jugendlicher Siegmund. Sarah Wegener als lyrisch liebende Sieglinde oder Tobias Kehrer als abgründig bassiger Hunding – sie alle boten erlesene Ensemblekunst, was selbstredend auch für die aufgeregt aufregende Schar der Walküren und in besonderer Weise für die enorm auftrumpfende Brünnhilde der Åsa Jäger gilt, die trotz aller Potenz auch emotional anrührende Momente bot.
Hier und da wurden Personenbezüge szenisch angedeutet und somit die Binnenspannung der knapp fünfstündigen Aufführung gestärkt. Doch allein die Gestaltungskraft Kent Naganos hat für die dramaturgische Geschlossenheit des Abends zu sorgen vermocht, er gestaltete existenziell und schuf so eine ergreifend dynamische Klangwelt, die so rasch nicht zu vergessen sein wird und jetzt schon Lust macht auf die Fortsetzung des Großprojekts »Ring« im Originalklang.
Aus Erwartung wird Ereignis
Als unvergesslich dürfte gewiss auch das Debüt von Klaus Mäkelä in die Geschichte der Dresdner Musifestspiele eingehen, das der designierte Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters mit der 5. Sinfonie von Anton Bruckner lieferte. Mit dem Namen des 28jährigen Finnen ist jede Menge Vorschusslorbeer verbunden, was auch in Dresden für einen ausverkauften Saal sowie großen Erwartungsdruck gesorgt hat. Mit einer enormen Klangkultur und einer geradezu durchbuchstabierten Sinfonie sind die Gäste aus Amsterdam dem mehr als gerecht geworden.
Mäkelä lieferte vielleicht keine Wiener Leichtigkeit, dafür umso mehr majestätisches Ausschreiten der Sätze. Ein wuchtiges, in den Entwicklungslinien differenziert gestaltetes Aufblühen, im dritten Satz mit der gehörigen Prise melancholischer Schwere versehen und zum Finale hin mit überbordenden Steigerungen. Die famosen Tutti-Wirkungen entfalteten sich aus solistischer und kammermusikalischer Überzeugung heraus, das Resultat geriet zum Ereignis, öffnete tatsächlich musikalische »Horizonte« und ließ den geistigen Horizont des städtischen Gastredners mit gnädigem Lächeln als Kommunalkultur durchgehen.
47. Dresdner Musikfestspiele – Konzertauswahl
18. Mai »Dresden singt & musiziert« (bereits ab 17 Uhr)
20. Mai Hélène Grimaud
22. Mai Igor Levit (18.30 Uhr Künstlergespräch!)
24. Mai Matthias Goerne und Alexander Schmalcz (Programmänderung)
1. Juni Die Nacht der Jungen Stars
7. Juni Herreweghe / Collegium Vocale Ghent