Als die ersten Programmankündigungen für das neue Jahr bei Musik in Dresden hereintrudelten, stach mir ein Banner der Dresdner Philharmonie ins Auge, das die geplanten Veranstaltungen für den Januar auflistet. In der Betrachtung eines „ganz normalen“ Konzertmonats könnte dieser Verlauf ja als repräsentativ für heutige Bedarfe und Erfordernisse des „Betriebs“ gewertet werden. Dazu müßte man aber einen Vergleich haben – der sich dank digitaler Archive heute mühelos erstellen läßt und gleichzeitig interessante Flashbacks ermöglicht.
Zunächst schauen wir aber mal genau aufs Banner und stellen fest, dass Dresdner Philharmonie 2025 weit mehr bedeutet als das klassische Frontalkonzert fürs Abonnentenpublikum – los ging es mit einer Lesung, flankiert von Kammermusik des Nachwuchses in der Kurt-Masur-Akademie, dann ein Musicalklassiker in interessanter Bearbeitung. Mahlers »Sechste«, da ist die große Sinfonik, aber gleich darauf ein Filmabend mit Livemusik. Beethoven fehlt nicht, aber dann kommt schon die neue Reihe »Best of Klassik«, die ein Werk des so genannten Kanons in den Mittelpunkt rückt – casual, niederschwellig. Schließlich ein Schulkonzert mit dem Thema »Finale«, logischerweise am letzten Tag des Monats platziert, die neue erste Gastdirigentin Tabea Berglund wird dann das Orchester leiten.
Divers, kontrovers, für jeden was dabei. Aber war das eigentlich immer so und wo lagen früher die Schwerpunkte eines ganz normalen Konzertmonats? Wir haben recherchiert, und dank der Datenbank musiconn performance sind Philharmonie-Konzerte seit der Aufarbeitung zum 150. Jubiläum des Orchesters gut dokumentiert. Im Abstand von zehn Jahren schauten wir uns die Konzertereignisse der letzten dreißig Jahre an – jeweils im Januar.
Im Jahr 2015 – das gleich mit der Inauguration der heute im zehnten Jahr wirkenden Intendantin Frauke Roth durch den damaligen Bürgermeiter Dr. Rolf Lunau begann – residierte die Dresdner Philharmonie nicht mehr im Kulturpalast, der damals im Umbau befindlich war, sondern an mehreren Spielorten in der Stadt. Geprobt wurde im Kino am Waldschlösschen, und es war ein gewohntes Bild, Menschen mit Tuba oder Fagott auf dem Rücken im Albertinum, im Hygiene-Museum oder im Schauspielhaus zu treffen oder auf den Wegen dazwischen in der Tram. Die Programme waren dementsprechend bunt, und teilweise sogar spektakulär(er), um das Publikum auch an die ungewohnten Konzertorte zu ziehen: Das Neujahrskonzert verlief launig „20er-jahrig“ unter Leitung des Komponisten und Chansonniers HK Gruber, einem Kammerkonzert auf Schloss Albrechtsberg folgte ein klassischer Abend im Schauspielhaus, und schon damals gab es – unter der Leitung von Helmut Imig – eine Reihe mit Filmmusikkonzerten. Tatsächlich stand am Ende des Monats im Albertinum auch eine Mahler-Sinfonie auf dem Programm: Markus Poschner dirigierte damals die komplexe Siebte, und an die vorne erschlagende und hinten suppige Akustik im Albertinum hatten sich Publikum und Orchester gleichermaßen gewöhnt – das Zauberwort hieß Interim und seit April 2017 wissen wir, dass Dresden nicht nur einen der besten Konzertsäle Europas besitzt, nun änderten sich logischerweise auch wieder Programme und Bedarfe – bis zum heutigen Tag werden im neuen Haus ja viele Formate ausprobiert, Möglichkeiten erprobt und geweitet, um ihn optimal „in Klang“ zu setzen.
Zeitensprung ins Jahr 2005, Johannes Paul II. lebte noch, in der wiedererstandenen Frauenkirche wurden die letzten Ziegel geputzt, Angela Merkel war noch nicht im Amt, dafür aber der Spanier Rafael Frühbeck de Burgos, der gerne seine deutschen Wurzeln betonte, in seiner ersten Saison bei der Dresdner Philharmonie. Im alten Kulturpalast, der damals mit gut 10.000 Abonnenten gesegnet war, gab es drei verschiedene Konzertangebote, nach denen man sich mit der Nachbarin aus Loschwitz oder dem Kollegen aus Leubnitz die Abende aufteilte – und wehe, die Studenten wagten sich einmal auf einen leergebliebenen Abonenntenplatz: der Nebenmann wusste genau, dass Frau Bähnert knapp, aber doch pünktlich zu Beginn ihren Platz einnahm. So klassisch ging es auch in den Programmen zu, die sich zwar in „Philharmonische“, „Außerordentliche“ und „Zyklus“-Konzerte teilten, aber inhaltlich möglichst für jeden alles boten, damit nicht etwa Frau Bähnert zweimal eine Mendelssohn-Sinfonie hören musste, oder, aus dem Archiv geplaudert: Wolfgang Hentrich dirigierte das launige Neujahrskonzert, das einmal quer durch den sinfonischen Garten führte (der Name Ekkehard Mayer leuchtet dort besonders auf), im Zykluskonzert winkte Bartóks Orchesterkonzert, Beethoven stand auch im folgenden Philharmonischen Konzert unter Simone Young auf dem Programm und der neue Chefdirigent widmete sich im „Außerordentlichen“ Werken von Claude Debussy – ein typischer Monat 2005.
Wir gehen noch einmal zehn Jahre zurück, wieder eine Erstsaison eines neuen Chefdirigenten: der Franzose Michel Plasson leitete im Januar 1995 (zur Erinnerung: wir gingen noch in der Webergasse und im Centrum-Warenhaus einkaufen, das Taschenberg-Palais war kurz vor der Wiedereröffnung…) ein Zykluskonzert, das in diesem Jahr dem Motto „zu Unrecht vergessen“ nachging, allerdings kann man heute Franz Schrekers Musik durchaus zum bekannten Kanon der Spätromantik um Gustav Mahler oder Alexander Zemlinsky zählen. Nicht vergessen darf man, dass die ersten Jahre nach der Wende auch manch musikalische Wende oder besser gesagt weitläufige musikalische Abenteuer einbezogen, da sich nicht nur die Bedingungen, sondern auch die Bedürfnisse veränderten. Bloß beim Neujahrskonzert gab man sich damals keine Blöße: Walzeriges von Johann Strauss durfte 1995 unter Leitung von Ralf Weikert ganz klassisch das Jahr eröffnen. Sodann aber war auch Platz für Neues: im Kammerkonzert erklang eine Uraufführung von Philharmoniker-Mitglied Friedhelm Rentzsch, und der britische Dirigent Peter Maxwell Davies brachte gleich ein eigenes Trompetenkonzert mit, bevor er mit seiner Fantasie »An Orkney Wedding with Sunrise« das Publikum amüsierte. Beethoven scheint ein Kontinuum durch Jahre und Jahrhunderte zu sein, hier war es neben der »Coriolan«-Ouvertüre die 7. Sinfonie – mit schwacher Erinnerung meine ich, es war genau das Konzert, wo eben dieser britische Dirigent die Sinfonie zweimal ansetzen musste…
Schließlich kehrte auch der vorangehende Chefdirigent Jörg-Peter Weigle zu einem Konzert in den Kulturpalast zurück und stellte mit Alfred Schnittkes zweitem Cellokonzert (Solist Thorleif Thedeen) eine Erstaufführung vor. Zudem empfing 1995 der Oberbürgermeister zum Neujahrsempfang nicht nur seine geladenen Gäste im Kulturpalast, sondern durfte sich dabei auch noch Saint-Saëns‘ 2. Klavierkonzert mit Brigitte Engerer als Solistin anhören, was den unterschwelligen Wunsch weckt, die Damen und Herren Politiker der Stadt dürften sich heute gerne öfters bei „ihrem“ Orchester sehen lassen. 1995 gab es übrigens noch ein »Heldenleben« im Januar zu bestaunen, richtig: Richard und Richard waren auch damals schon die Stadtikonen und Michel Plasson setzte ein Jahr später sogar das »Liebesmahl der Apostel« (übrigens mit dem Wiener Singverein als verstärkendem Chor!) in Szene.
Damit wären wir mit unserem 30-Jahre-Rückblick im Hinblick auf einen ganz normalen Januar fertig (ohne Gewähr auf Vollständigkeit, versteht sich), aber da die Dresdner Philharmonie ja dieses Jahr schon in ihr 155. Bestehensjahr einbog, haben wir uns in der Recherche einmal noch weiter zurückgegraben – noch ein Januar, und zwar der im Jahr 1925.
Wieder gibt es einen Chefdirigenten in seiner ersten Saison, der aus Crailsheim gebürtige Eduard Mörike, der das damals genossenschaftlich organisierte und aus der Inflation gerettete Orchester zu neuer Blüte führte. Und fast wie um diesen Artikel wieder zurück nach 2025 zu führen, stellt man erstaunt fest, dass ausgerechnet dieser Mann vor 100 Jahren dem Publikum schon Konzerteinführungen etwa unter dem Titel »Beethoven und unsere Zeit« oder »Vom Menuett zum Jazz« gab, und auch Konzert- und Werkzyklen wurden mit ihm erstmals eingeführt, zudem wirkte er auch als Pianist, und Abschnitte mit Liedfolgen mit Dresdner Sänger:innen waren im Sinfoniekonzert durchaus üblich.
Der Januar 1925 jedenfalls war prall gefüllt, und so versteht sich auch, dass das Neujahrskonzert kurzerhand als „Weihnachtsabend bei Johann Strauss“ schon am 2. Weihnachtsfeiertag vorproduziert wurde. Der Programmzettel wies außerdem aus, „vor dem Schluss des ersten Teiles nicht zu rauchen“ und die Leitung übernahm kein geringerer als der Neffe des großen Johann Strauss (Sohn) namens Johann (Eduard Maria) Strauss (1866-1939), ein gern gesehener Gast am Pult der Philharmonie. Die Aufzählung der folgenden Konzerte läßt den Januar fast platzen und man fragt sich, wann die Musiker das alles geprobt haben: ein Sinfoniekonzert unter Mörike mit Brahms/Beethoven-Programm, weiter eines mit Strauss, Liszt und der „Symphonie Phantastique“ von Berlioz, ein „Rönisch-Konzert“ mit Pfitzers Klavierkonzert sowie Mozart und Reznicek, ein Mozart-Beethoven-Abend mit Arien und Sinfonien, ein Gewerbehauskonzert unter Leitung von Siegfried Wagner, sowie ein weiteres Sinfoniekonzert mit Schumanns 4. Sinfonie, Wagner, Brahms, Weber und Klavierliedern von Strauss.
Sodann fand ein »Großes Philharmonisches Konzert« statt, in dem die australische Geigerin Alma Moodie Beethovens Violinkonzert interpretierte und Arnold Winternitz Monodram »Die Nachtigall« (heute leider vergessen, aber Monodramen waren damals ziemlich en vogue!) zur Aufführung kam, Dirigent war der Norweger Issay Dobrowen. Ach ja, fast vergessen hätte ich die Missa Solemnis, die gleich am 1. Februar aufgeführt wurde, um die Dresdner Singakademie in Szene zu setzen, ebenfalls von Mörike geleitet.
An dieser Stelle steigen wir aus der Zeitmaschine aus und hoffen, mit dieser launigen Reise wieder Lust für die nächsten Abenteuer der Dresdner Philharmonie entfacht zu haben – auf jeden Fall ist ein Blick in die Archive für den musikalischen Spiegel der Zeit nicht nur spannend, sondern offenbart auch interessante Geschichten und Persönlichkeiten. Und wir freuen uns schon auf den Januar 2035, wenn wir dieses Thema wieder aufnehmen…