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„Kann mich wohl irgendjemand verstehen?“

Der 27. Januar ist ein Datum, das weltweit im Zeichen des Gedenkens an den Holocaust und dessen Opfer steht. Im Sächsischen Landtag gastierte aus diesem Anlass die Oper Chemnitz mit der Kammeroper »Das Tagebuch der Anne Frank« von Grigori Frid.

Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee gastieren derzeit die monumentalen Porträts der Serie »Wider das Vergessen« des italienisch-deutschen Fotografen Luigi Toscani an mehreren Orten in Dresden und Hellerau (Foto: M.M.)

Ungeheuerliches ist geschehen. Unvorstellbar, beispiellos und im Grunde unglaublich. Abgrundtiefer Hass, ideologischer Wahnsinn und eine in Worte nicht zu fassende Entmenschlichung hat dazu geführt, dass von deutschem Boden nicht nur zwei mörderische Weltkriege ausgegangen sind, sondern auch der quasi industriell umgesetzte Massenmord an etwa sechs Millionen Menschen, deren Todesurteil einzig aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ergangen und umgesetzt worden ist.

Deutsche Soldaten und Offiziere sowie ihre Helfershelfer haben dazu mit bürokratisch penibler Hingabe ein Netz von Konzentrations- und Vernichtungslagern geschaffen, haben ihre Tötungsmaschinerie mehr und mehr perfektioniert, sie auf die völkerrechtswidrig kriegerisch eroberten Gebiete vor allem in Osteuropa ausgedehnt. Als der Traum von einem »Tausendjährigen Reich«, mit dem ein paranoider Anstreicher aus Braunau gewaltige Teile des deutschen nationalistischen Patriotenvolks angesteckt hat, nach einem Jahrdutzend in sich zusammenbrach wie ein Kartenhaus (und umgehend kaum jemand mehr von seinem Mittun gewusst haben wollte), waren die Beweise all der Menschheitsverbrechen nicht mehr restlos zu tilgen. Am 27. Januar 1945 haben Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit; sie mussten Ungeheuerliches, Unvorstellbares, Unglaubliches entdecken.
Dieser 27. Januar, hat sich eingeschrieben in die weltweite Erinnerungskultur. Seit 1996 in Deutschland, ist dieses Datum 2005 von den Vereinten Nationen auch als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust etabliert worden.

Dem Sächsischen Landtag ist dies ebenfalls Anlass mehr als genug für regelmäßige Gedenkveranstaltungen. Unvergessen ist etwa die Aufführung von Olivier Messiaens »Quatuor pour la fin du temps« (das 1941 im Görlitzer Kriegsgefangenenlager Stalag VIIIA uraufgeführte »Quartett für das Ende der Zeit« im Januar 2021, siehe auch Musik in Dresden vom 19.1.2025).

Was lag nun näher, als in diesem Jahr nach Chemnitz zu blicken, in die Europäische Kulturhauptstadt 2025. Sie ist am 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Landtag zu Gast gewesen und präsentierte in einer konzertanten Aufführung die Mono-Oper »Das Tagebuch der Anne Frank« von Grigori Frid, einem russisch-jüdischen Komponisten, der auch als Schriftsteller und Maler von sich reden gemacht hat und in seiner Familie die Schrecken des Stalinismus zu spüren bekam. Dieses für Solo-Gesang und Sprechstimme verfasste Kammerstück ist an der Chemnitzer Oper zwar nicht für diese Gedenk-Veranstaltung erarbeitet worden, sondern wurde vor allem für Schulen einstudiert (szenisch wird es im Konzertsaal der Chemnitzer Musikschule gezeigt, nächste Termine am 12. und 13. Februar sowie am 5. und 6. März). In Dresden gab es nur eine konzertante Aufführung, die freilich nicht minder bezwingend geriet.

Wer das Tagebuch und das Schicksal von Anne Frank kennt, die als 15-Jährige im Konzentrationslager Bergen-Belsen umgebracht wurde, mag ahnen, worum es in dieser Oper geht. Sie geht sowohl musikalisch mit jüdischen Themen, vorsichtig modern gefärbt, als auch inhaltlich mit größter Emotionalität unter die Haut. Ein kleines Instrumentalensemble sowie die Sopranistin Elisabeth Dopheide und die Sprecherin Susanne Stein haben die inneren Vorgänge der Tagebuchschreiberin bezwingend interpretiert. Für eine würdevolle Atmosphäre dieser Matinee sorgte neben dem Christoph Dittrich, dem Generalintendanten der Chemnitzer Theater, auch Landtagspräsident Alexander Dierks. Er begrüßte das Publikum (darunter auch zahlreiche Neuntklässler aus Dresdner Schulen) mit einer berührenden Rede, in der er rückblickend an die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus erinnerte und hervorhob, dieses Gedenken dürfe keinen Endpunkt kennen. Mit dem Blick auf das Heute warnte Dierks zugleich, dass es keine Diktatur auf Probe gebe, denn auch die damaligen Verbrechen hätten nicht erst mit dem Holocaust, sondern längst zuvor »mit bösen Reden«.

Foto: Kati Hilmer

Auch nach der Aufführung zeigte sich der Politiker sehr berührt: „Im Nachgang dieser Oper hat sich uns allen die Frage nochmal neu gestellt, was hätte diese kluge, nachdenkliche, auch durchaus fordernde junge Frau alles beitragen können, wenn sie nicht aufgrund des einfachen Umstands, dass sie Jüdin war, verfolgt und später getötet worden wäre. Für sechs Millionen Jüdinnen und Juden gilt das gleichermaßen, für Menschen mit Träumen mit Hoffnungen, mit Zielen in ihrem Leben, die nur deshalb nicht länger leben durften, weil sie Jüdinnen und Juden waren.“

Ihnen allen ist das Leben genommen worden aufgrund eines um sich greifenden, verbrecherischen Wahnsinns. Wie sehr hätten diese vielen Menschen ein gemeinsames Dasein als Europäer, wie sehr hätten sie unser Europa bereichern können? All diese Chancen sind von den Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus grundlos zerstört wurden. Auch Anne Frank könnte heute noch leben, sie wäre jetzt eine 95jährige Frau!

Ein Zitat von ihr hat überaus deutlich gemacht, wie sehr das Tagebuch aus dem Herzen eines jungen Mädchens spricht, wie sehr diese Oper ihre Gedanken wiedergibt, auch ihre Ängste – und wie sehr überall auf der Welt dieses Geschehen als Warnung verstanden werden sollte, damit sich irgendwann derartige Gewalt nicht mehr wiederholt: „Manchmal überlege ich mir, kann mich wohl irgendjemand verstehen?  Über die Undankbarkeit hinwegsehen? Hinwegsehen über Jude oder Nicht-Jude und nur den Backfisch in mir sehen, der so ein großes Bedürfnis nach ausgelassenem Vergnügen hat? Ich weiß es nicht. Und ich könnte auch nie, mit niemandem darüber sprechen. Denn ich würde bestimmt sofort anfangen zu weinen.“

Konzertempfehlung: 14. Februar 2025, »Musik versus Barbarei« am Festspielhaus Hellerau. Hier erklingt etwa Viktor Ullmanns 3. Streichquartett, das im Konzentrationslager Theresienstadt entstand. Der Fotograf Luigi Toscano wird eine Stunde vor Konzertbeginn über seine Fotoarbeiten berichten und eröffnet auch eine kleine Ausstellung (in Kooperation mit »Weltoffenes Dresden« und dem PORTRAITS – Hellerau Photography Award)