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„Ich erlaube mir eine Verlustmelancholie“

„Wir können leider nicht alles in die Zukunft mitnehmen, die Pferdekutschen, das Meißner Porzellan, die Schreibschrift, all das Handwerk, das durch die serielle Produktion verloren ging. Ich erlaube mir eine ausgeprägte Verlustmelancholie, ohne dass ich das dem Fortschritt ankreide. Vielleicht ist es das, was man hören kann…“ (Foto: Claudia Weingart)

Sven Helbig, beim Geigenbauer musste ich kürzlich an Sie denken und an Ihr Album „Skills“. Es ist selten geworden, dass Menschen ihr gesamtes Leben lang ein einziges Produkt versuchen zu perfektionieren.

Ich bin in vielen Dingen Autodidakt, habe aber eine große Hochachtung vor Meisterschaft und überhaupt vor Fähigkeiten, die über viele Jahre und Generationen erworben und perfektioniert wurden. Ich denke, wenn man einmal versucht hat, eine einzige Sache gründlich zu durchdringen, kann man das auf alles neue Lernen anwenden. Ich habe einmal Schlagzeug spielen zum Mittelpunkt meines Lebens gemacht. Morgens um sieben war ich an der Hochschule, um noch ein Übezimmer zu bekommen, und abends bin ich mit als letzter gegangen, und dann noch nachts mit dem Becken auf dem Beifahrersitz vom Auto herumfahren… Wenn man etwas Neues beginnt, muss man akzeptieren, dass es Meister auf allen Gebieten gibt. Aber ein kreativer Impuls sollte nicht in Ehrfurcht ersticken. 

Für das Bedürfnis, sich musikalisch auszudrücken, spielt es keine Rolle, was alles vorher schon geschaffen wurde.

Für den Kreuzchor haben Sie gerade Ihr neues Requiem fertig geschrieben. Wie kommen Sie damit klar, vom Publikum an Kollegen wie Rudolf Mauersberger oder Wilfried Krätzschmar gemessen zu werden?

Ich sehe diese Leuchttürme in der Ferne. In diesem speziellen Fall gehe ich auch auf Mauersbergers „Wie liegt die Stadt so wüst“ ein; in den schreitenden Quintparallelen zum Beispiel. Ich kenne die klassische Musik sehr gut, sie berührt und begeistert mich. Aber ich bin im Moment sehr viel stärker von Musik beeinflusst, die nicht mit Geigen, sondern zum Beispiel mit Modularsystemen gespielt wird, in der man die Seele bis in die tiefsten Tiefen sinken und die höchsten Höhen steigen lassen kann. Auch dort sind ernsthafte Musiker unterwegs, die mich inspirieren, Venetian Snares oder Ben Frost gehören dazu. Wer ausschließlich mit den Kompositionsprinzipien des Kontrapunktes lebt, findet deren Musik, die sich endlos dehnen kann, wahrscheinlich todlangweilig. Hier haben sich Genres mit ihren eigenen, kunstvollen Prinzipien entwickelt. Das hat mit dem, was Mauersberger und Krätzschmar komponiert haben, außer der Hingabe, nicht viel gemeinsam. Aber mit Violine, Bratsche, Cello wird man immer an der Klassik gemessen werden.

Das war zum Beispiel bei Ihren »Pocket Symphonies« so, die Sie vor über zehn Jahren komponiert haben. 

Bei den »Pocket Symphonies« waren die Reaktionen des Klassik-Publikums teilweise noch heftig, weil die klassische Kritik diese Stücke partout als Klassik hören und verstehen wollte. Aber dafür waren sie nicht gemacht, sie haben lediglich klassische Instrumente verwendet. Es hat sich seitdem einiges verändert. Das jüngere Publikum ist sehr offen. Die jetzt Zwanzig- und Dreißigjährigen können Brahms und Elektronische Musik gleichzeitig mögen. Das ist kein Widerspruch mehr und eine großartige Entwicklung. Auch der Kreuzchor hat inzwischen ein breiteres Publikum. Die Motivation des Chors ist unter anderem, die musikalischen Pforten etwas zu öffnen, der Nachwuchs im Bereich der „strengen Lehre“ geht ja auch zurück. 

Sie komponieren eingängig, niederschwellig, tonal. Diese drei Adjektive lösen bei zeitgenössischen Komponistenkollegen der „strengen Lehre“, wie Sie das eben genannt haben, sofort Misstrauen aus. Kann Musik gut sein, die so populär ist, fragen die sich vielleicht. 

Ich finde die „Materialforschung“, also alle Versuchsanordnungen, was man mit den 12 Tönen und den Orchesterinstrumenten Neues hervorbringen kann, sehr interessant und inspirierend, aber ich habe für mich einen anderen Weg gesucht und gefunden. Musik machen ist ein persönlicher, aber auch kommunikativer Prozess. Mir ist es zuerst wichtig, mich außerhalb der Musik zu entwickeln, und mich dann mit geeigneten musikalischen Mitteln mitzuteilen. Hier wähle ich die geeignete Sprache. Generell gehe ich davon aus, dass alle Musik zusammengehört und alle Klänge ihre Bedeutung und ihren Platz haben. Selbst zeitgenössische Komponisten werden ihrem Kind beim Schlafengehen etwas „Niedrigschwelliges“, wie Sie es nennen, singen. Auch an einem Grab hört man vielleicht andere Klänge, als auf der Experimentierbühne. 

Rudolf Mauersberger hat in »Wie liegt die Stadt so wüst« schockartige, lebensverändernde Erfahrungen auskomponiert, seine Ohnmacht angesichts der Trümmerwüste bis zum Horizont. Er hat dafür eine Tonsprache gefunden, die mit dynamischen Kontrasten arbeitet, mit hohlen Oktavparallelen; an anderen Stellen hat er mit harmonisch entrückten Melismen an die schönste aller Städte erinnert. Mit welchen musikalischen Mitteln arbeiten Sie im Requiem?

Der Einsatz der elektronischen Instrumente gibt mir die Möglichkeit, die Oktaven unter dem Chor und über dem Sopran zu füllen. Damit kann ich das Klangspektrum enorm erweitern. In der modernen elektronischen Musik findet viel unter dem Orchester, unter dem Kontra-C, statt. Das fülle ich und es könnte sein, dass das die Hörer überrascht. Und dann ist meine Erwartung, dass es im Mittelpunkt um die Texte geht. Wir erzählen ja keine Musikgeschichte, sondern Trauergeschichte, den Umgang mit Schuld und Vergebung. Ich möchte die Trauermotette nicht ersetzen, sondern sagen: die Stadt steht wieder. Aber der Geist der Zerstörung, der tragischen Ereignisse, der weht noch durch die verletzte Stadt. Diesen Geist habe ich aufgenommen und bette ihn ein. 

Mein Eindruck ist, dass die Kreuzkantoren die Problematik, die aus Mauersbergers einseitiger Textbehandlung der Klagelieder Jeremias erwuchs, jahrzehntelang eher weggedrückt haben. Die Trauermotette fragt nach dem „Warum?“, aber die offenkundige Antwort auf diese Frage wollte der Komponist lieber nicht geben. 

Mit dieser Frage habe ich mich lange beschäftigt. Die Klagelieder Jeremias schildern ja einen völlig anderen Vorgang; mit ihnen ist die Opferrolle Dresdens bei Mauersberger eingeschrieben und die Schuldfrage ausgeklammert. Mauersbergers Entsetzen, die Ohnmacht und Enttäuschung in Anbetracht der unfassbaren Zerstörung, kann man ihm nicht verdenken und ich respektiere das. 

Ich lerne von meiner Tochter, einen neuen Blick auf Dresden zu wagen. Sie geht in den Starbucks am Altmarkt und weiß nichts von dem ursprünglich wundervollen Platz. Sie nimmt den Zustand als gegeben. Irgendwie müssen wir einen neuen Anfang finden. Ich setze an einer Stelle die Schuld als wichtiges Positionslicht, aber sie dominiert nicht das Stück. Dieses Requiem sucht den Weg aus der tragischen Erfahrung zurück ins Leben. 

Ein friedliches, ein Trost-Requiem wie etwa das von Gabriel Fauré, das der Chor letztes Jahr zum Gedenktag an die Zerstörung der Stadt aufführte?

Ja, und es gibt immer wieder ein neues Leben. Den Toten ist nicht geholfen, wenn man mit ihnen mitstirbt. 

Woher kam der Impuls für das Requiem A? War es ein Auftrag? 

Nein, es ist kein Auftragswerk. Ich habe eines Tages angefangen zu schreiben, nachdem ich meinen Großvater besucht hatte. Er war mit 16 noch im Krieg, hat gesehen, wie seine Kameraden starben. In unserer Familie war er der Einzige, der vom Krieg erzählt hat. Heute ist das Thema Krieg wieder täglich anwesend, in den Gesprächen mit Freunden, der Familie und den politischen Debatten. Mich wühlt das sehr auf. Die Menschheit verliert in den unendlichen, sinnlosen Kriegen alle Kraft für wichtigere Probleme. Ich habe aus diesem Impuls heraus damit begonnen, ein Requiem zu entwerfen. 

Dann brauchte ich Künstler und habe Kontakt zum Kreuzchor aufgenommen. Das Jahresprogramm für 2025 war zwar schon fertig, aber Martin Lehmann und sein Team haben sich sofort entschlossen, zum 80. Jahrestag der Zerstörung Dresdens etwas Neues zu versuchen, die Generation sprechen zu lassen, die jetzt hier ist. 

Ich bin sehr dankbar, dass mir dieses Vertrauen entgegengebracht wurde. 

Und wie sind Sie beim Komponieren vorgegangen?

Zuerst habe ich nach Elementen gesucht, die das Stück durchweg tragen könnten. Das Atmen ist ein wesentliches Element im Text und dafür habe ich ein musikalisches Pendant gesucht. Sich abwechselnde Akkorde ziehen sich durch das Stück und bilden die Leinwand, auf der alles Weitere erzählt wird. In allen Fällen gab es zuerst den Text. Er diktiert die musikalische Gestaltung.

Wie ist dieser Text gewachsen? 

Ich mische die liturgischen Texte mit meinen eigenen. Aber zuerst musste ich für mich klären, wie ich mich auf die Stadt Dresden beziehe. Als Grundlage nahm ich den Bauplan des traditionellen Requiems und betrachte ihn, wie die zerstörte Stadt. Auf Position 2 steht dort das „Kyrie“. Das ist für mich die Kreuzkirche, die am 13. Februar den Bomben standgehalten hat. Da fasse ich den liturgischen Text nicht an. Das Sanctus, das könnte die Frauenkirche sein. Hier benutze ich Teile des originalen Textes und ergänze ihn mit meinen eigenen „Steinen“. Es gibt auch Texte, die komplett neu sind, wie viele Teile der Stadt, die nicht historisch wiederaufgebaut wurden. Auch das „Agnus Dei“ habe ich textlich im Original belassen. Historisierte Neubauten gibt es auch in „Requiem A“, indem ich meine Texte teilweise ins Latein übersetzen lassen habe. 

Den Siebenschritt der Requiemsätze habe ich mit zwei Bassarien ergänzt. Mir gefällt es, jetzt neun Teile zu haben, denn die Neun ist in der Numerologie die höchste Zahl vor dem Sprung in die Zweistelligkeit. Eine Markierung für einen längeren Prozess, der abgeschlossen ist und kurz vor der Umwandlung steht.

Wie schlagen sich diese Überlegungen textlich nieder?

Zuerst ist ein Requiem eine Trauermusik. Ich habe daneben kleine Episoden und Bilder gesucht, in denen ich den vorsichtigen Blick aus der Trauer in etwas Vorwärtsgewandtes erzählen kann. Im „Sanctus“ wollte ich nicht den typischen Jubel hören, sondern auch anklingen lassen, dass die menschliche Sehnsucht nach Wegweisung missbraucht werden kann. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man falschen Fährten folgt und damit auch schuldig wird. „An den Händen Blut und Asche im Gesicht“ – das zeigt nicht mit dem Finger, aber es klammert dieses Thema nicht aus. In Dresden ist der Stolz auf die kulturellen Reichtümer stark ausgeprägt. Der Einbruch in das Grüne Gewölbe wurde mit einem kollektiven Schmerz wahrgenommen. Aber wenn man stolz sein möchte auf etwas, das man nicht geschaffen hat, muss man sich auch mit Schuld auseinandersetzen, für etwas, dass man nicht getan hat. Diese Dinge gehören leider zusammen.

Diese beiden Bassarien wird ihr Freund René Pape singen. Er hat vor zweieinhalb Jahren selbst eine schwere persönliche Krise öffentlich gemacht. Wie haben Sie ihn überzeugen können, mitzutun?

Ich musste René nicht überzeugen. Er hat mir gleich zu Beginn meiner Arbeit am Stück gesagt, dass er unbedingt dabei sein möchte. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Er hat eine intensive Beziehung zu der Dresdner Vergangenheit und seinen Wurzeln im Kreuzchor und wir beide sind auch schon sehr lang befreundet. Damit erscheint es fast zwangsläufig, ihn mit auf der Bühne zu haben. Ich habe dann angefangen, Worte für zwei Bassarien zu formulieren. Das sind Sehnsuchtstexte nach einem Neuanfang, nach Transformation. Diese Stücke sind René auf den Leib geschrieben. Er bringt sich mit seiner Kunst, Sprache zu gestalten und der Vielfarbigkeit seiner überwältigenden Stimme wunderbar ein und ist Teil des Ganzen geworden. Wir haben uns für ihn eine schöne dramaturgische Geste ausgedacht, die ich noch nicht verrate. Ich kann mir „Requiem A“ jetzt ohne ihn nicht mehr vorstellen.

In vielen Ihrer Werke spüre ich eine große Melancholie, eine dunkle Traurigkeit. Ich will nicht mutmaßen, woher das kommt. Trauern Sie manchmal alten Zeiten hinterher?

Wenn ich Musik im Kopf entwickle, suche ich diese Farben nicht bewusst. Sie sind dann aber doch auf der Palette. Ich weiß nicht genau, was da durchklingt. Ich begrüße neue Ideen und versuche an neuen Entwicklungen in der Musik und im Alltag teilzuhaben. Aber bei allem Willkommen, finde ich es falsch, so zu tun, als kämen an der Seite des Fortschritts nicht auch Dinge abhanden. Wir können leider nicht alles in die Zukunft mitnehmen, die Pferdekutschen, das Meißner Porzellan, die Schreibschrift, all das Handwerk, das durch die serielle Produktion verloren ging. Ich erlaube mir eine ausgeprägte Verlustmelancholie, ohne dass ich das dem Fortschritt ankreide. Vielleicht ist es das, was man hören kann.

Vielleicht sind Sie so ein Strugazki’scher ‚Stalker‘: ein Kundschafter, der seine Kunden an verwunschene, aus der Zeit gefallene Orte bringt, ein trauriger Schatzgräber, der mit den sowjetischen beziehungsweise ostdeutschen Verheißungen der Moderne nichts anfangen kann. 

Seltsam, das hat Neil Tennant von den Pet Shop Boys auch schon zu mir gesagt. Aber es stimmt so nicht ganz. Ich bin Mitglied des Beyond Humanism Netzwerkes, werde dort regelmäßig als Keynote Sprecher eingeladen und schreibe mit Stefan L. Sorgner an einem Buch zum Thema Posthumanismus. Ich grabe also nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft.

Gedenkkonzert
9. Februar 2025, 17 Uhr, Kreuzkirche Dresden

Rudolf Mauersberger: »Wie liegt die Stadt so wüst«
Sven Helbig: »Requiem A« für Chor, Orchester und Elektronik (Uraufführung)

René Pape | Bass
Sven Helbig | Elektronik
Dresdner Kreuzchor
Sächsische Staatskapelle Dresden
Kreuzkantor Martin Lehmann | Leitung

Tickets (10-18 EUR) via www.kreuzchor.de und an der Abendkasse

Weitere Aufführungen sind dieses Jahr in Wien und in Coventry geplant.