“Singe!”, befiehlt der Meister – und man folgt ihm gern (Foto: Stuart Cohen)
Das Programm las sich übersichtlich: “Bobby McFerrin – Solo-Improvisationen”. Ohnehin dürften die meisten Besucher, die am Sonntagnachmittag in die Semperoper strömten, gewusst haben, was
sie dort erwartete: Zwei kleine Lautsprechertürme. Eine leere Bühne. Eine Stimme, “die” Stimme: der New Yorker Sänger Bobby McFerrin durfte natürlich im “Neue Welt”-Programm der Musikfestspiele nicht fehlen. Er nahm die Stadt im Sturm, teilte die Publikumswogen nach zwei einführenden Gesangskunststückchen in zwei, später mehr Gruppen und ließ singen. “Nein, lass das Saallicht aus, dann trauen sich mehr.” Und tatsächlich: erst intonierten ‘wir’ zaghaft das Schubertsche “Ave Maria”, wozu McFerrin die arpeggierte Klavierbegleitung sang. Später holte er sich dann Gesangspartner und schließlich einen ganzen Chor auf die Bühne, improvisierte zu den Background Vocals. Wer sich fragte, ob die beiden mutigen Sänger, die mit dem “Ambassador of Music” nahezu perfekte Duo-Improvisationen aus dem Ärmel schüttelten, nicht gekauft waren, dem sei versichert, dass das mitnichten der Fall war; der Rezensent hatte in der Tonhalle Zürich nämlich einmal selbst das solistische Vergnügen.
Menschen zum Singen zu ermutigen, ihnen Freude auf dem Weg zur Musik zu geben, ist der Auftrag, den sich McFerrin selbst erteilt hat. “Singe! Improvisiere jeden Tag ungefähr zehn Minuten lang!”, ermutigt er sein Publikum. Wer sich dagegen wirklich neues Material erhoffte, kam nicht auf seine Kosten; insofern war die Ankündigung von Improvisationen allgemein auf das Genre, nicht auf die sängerische Ausführung bezogen. Den Chaplin-Klassiker “Smile” singt McFerrin seit Jahren genau so unglaublich virtuos wie den Beatles-Klassiker “Blackbird”, dessen Pfeif-Einlagen auch das Dresdner Publikum wieder zuverlässig lieferte. Der “Hummelflug” und “Somewhere over the rainbow” waren ebenfalls wieder mit von der Partie, und brachten die Semperoper zum Schluss des minutengenau zum Abschluss gebrachten anderthalbstündigen Konzerts zum Trampeln, Pfeifen, Brüllen. Bobby McFerrin mag nicht der avantgardistischste Bewohner der “Neuen Welt” sein – aber er ist derjenige, der eine kleine hölzerne Seitentür aufgemacht und vielen Freunden den Weg gezeigt hat.
Martin Morgenstern
Eine Druckfassung des Artikels ist am 2. Juni in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.