Abschied vom berühmten “Sprungturm” (Foto: M. Creutziger)
Achtzigste Vorstellung nach dreiundzwanzig Jahren seit der Premiere 1986 und Schluss mit „Elektra“, vorerst, in Dresden. Die fünfte Inszenierung des vor hundert Jahren, am 25. Januar, im zweiten
Semperbau uraufgeführten mörderischen Operneinakters von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss kommt bestimmt. Und in zwei Jahren, wieder im Januar, feiern wir hundert Jahre „Rosenkavalier“…
Was man jetzt, zum Abschied von „Elektra“ sah, erinnerte an die Zeit vor dreiundzwanzig Jahren. Eine Schlange an der Kasse der Semperoper. Einziger Unterschied: damals wurde draußen gewartet, man wurde nur in Kleinstgruppen vorgelassen. Das Warten überhaupt, insbesondere auf die Erlösung von außen, machte damals die schon international renommierte Regisseurin Ruth Berghaus aus Dresden zum Thema ihrer grauen antiken Gestalten auf einem Sprungturm, der mitten im Orchester, das auf der Bühne sitzt steht, weil man den Orchestergraben des dritten Semperbaus, am 13. Februar 1985 eröffnet, zu klein gebaut hatte. Die Inszenierung als Psychogramm verwarteter DDR-Mentalität blieb in Dresden aktuell noch lange nach dem Verschwinden der DDR, erlangte so etwas wie Kult-Status, wurde im Repertoire gepflegt und brachte es auf eine stattliche Zahl international geschätzter Sängerinnen in den Hauptpartien. Jetzt ist der Bühnenbeton des Sprungturms nicht mehr ganz sicher, der Kultstaus hat sich verflüchtigt, Nostalgie allein füllt kein Opernhaus. Also ein Abschied in Würde.
Noch einmal präsentiert sich die groß besetzte Staatskapelle, das geliebte Uraufführungsorchester von Richard Strauss, unter der Leitung von Marc Albrecht als meisterliches Ensemble, wenn es darum geht, die Grenzen romantischer Klangfantasien auszuloten, Feinheiten auszukosten und der dramatischen Wucht freien Lauf zu lassen. Janice Baird singt an diesem Abend wieder für die erkrankte Eva Johansson, die zwischenzeitlich mal wieder gesund war und am 28. Januar auf den Sprungturm stieg. So intensiv wie an diesem Abschiedsabend aber hat man Janice Baird in Dresden noch nicht gehört. Susan Anthony verabschiedet sich in Dresden als Chrysothemis und gleiches gilt auch für Gabriele Schnaut als Klytämnestra, die es liebt, sowohl in der Deklamation als auch in der Darstellung kräftig aufzutragen.
Die Herren haben in dieser Oper nicht so viel zu sagen und zu singen. Berührend ist das kurze Wiedersehen und Wiederhören mit Reiner Goldberg als Aegisth. Jukka Rasilainen, der müde Orest, ein Rächer von der traurigen Gestalt, erfasst am ehesten den Gestus der Inszenierung. Knapp sind die Auftritte für Rainer Büsching und Peter Lobert, Pfleger des Orest und alter Diener. Für Gerald Hupach als junger Diener wird es in der Höhe arg knapp. Barbara Hoene und Christiane Hossfeld sind Vertraute und Schleppträgerin der alptraumgequälten Königin Klytämnestra, Sabine Brohm ist eine gestrenge Aufseherin. Fünf Mägde, Sofi Lorentzen, Angela Liebold, Elisabeth Wilke, Roxana Incontrera und Birgit Fandrey. Letztere und Elisabeth Wilke waren am 15. Juli 1986 dabei in denselben Partien, als die Dresdner nach langer Pause ihre „Elektra“ wieder begrüßten; etwas stürmischer und langanhaltender übrigens, als sie sich jetzt verabschiedeten.
Boris Michael Gruhl