Ein „Mordskonzert“! Das Contemporary Noise Sextet (CNS) zog am Nikolausabend-Auftritt im Jazzclub Neue Tonne auch jene sofort in seinen Bann, die diese Musik bisher noch nicht kannten. Rasend schnelle Motivfolgen, vertrackte Rhythmen und Rhythmenwechsel in Formel-1-Geschwindigkeit, ein akustischer Superdruck: Das an
John Zorns frühere Naked-City-Band erinnernde „Unaffected Thought Flow (Part 1)“ ließ den Zuhörern sofort den Atem stocken, Fassungslosigkeit machte sich breit, nach einer Sekunde brach sich rasender Beifall Bahn, doch da hatte die Musik bereits eine Kehrtwende gemacht, und die leicht verhallte, Sehnsuchtsstimmung vermittelnde Trompete des überragenden Wojtek Jachna umschmeichelte mit langsamen, lyrischen und weit gebogten Melodiegirlanden die adrenalingetränkten Hirne des Publikums. Welch ein Horizont hatte diese Musik!
Die Themen der Stücke zeigten sich beeinflusst von der Melancholie und der raffinierten Einfachheit eines Komeda oder Stanko, hatten einen Touch Wehmütigkeit, wie sie in den Melodien vieler Post-Rock-Titel zu finden ist, wurden aber kraftvoll gespielt im Satz aus Saxofonen (Tomek Glazik) und Trompete, ergänzt von einem im Sound chamäleonartig sich wandelnder, spitzbübisch wirkender Gitarre (Kamil Pater).
Als Mitglieder des Contemporary Noise Sextet waren sie zum Nikolaustag 2008 in der “Tonne”, als Mitglieder von Sing Sing Penelope kommen sie zum JAZZWELTEN-Festival 2009 wieder (v. l. n. r.): Tomek Glazik, Patryk Weclawek und Wojtek Jachna. (Foto: Wolfgang Zimmermann)
Trotz der überwältigenden Expressivität der Band, die mit ihrer Spielfreude und der Wucht ihres Auftrittes mit- und hinreißend war, scheint der Schlüssel zum Wesen dieses neuen Sterns der Jazz-Magie aus Polen das Melodische der CNS-Themen zu sein. Wer je Gelegenheit hatte, die in reduzierter Besetzung eingespielte CD „Theatre Play Music“ (Kuba Kapsa, p; Kamil Pater, g; Patryk Weclawek, b; Bartek Kapsa, dr) zu hören, kann spüren, wie tief das Melodische im Denken und Fühlen dieser Jungs verwurzelt ist: Auf dieser Theatermusik-CD, konzentriert auf die Ausdrucksmöglichkeiten eines Quartetts, begegnen sich fast kinderliedartige Melodien à la Pascal Comelade mit den sanft-legeren Klängen, wie sie die Gitarristen Robert Quine und Marc Ribot gemeinsam mit der Computer-Perkussionistin Ikue Mori für die CD „Painted Desert“ eingespielt hatten. Das Denken in den Kategorien von Theater- und sogar Filmmusiken kommt jedenfalls, das machte das „Tonne“-Konzert deutlich, dem CNS-Projekt der Brüder Kapsa voll zugute.
Dort, wo sich das ausgeprägt Melodische mit der gesamten Wucht der fulminanten Bläser (Tomek Glazik steigerte diesen Eindruck bei „Walkin Sin“ durch den Einsatz eines Baritonsax) und dem unverschämt dreckig-glockigen Keyboard-Sound Kuba Kapsas traf, flirrte die Luft und die Musik nahm etwas Betörendes an. Wie sie von Bartek Kapsa rhythmisch aufgefächert wurde, der „seine“ Band voll „in der Hand“ hatte, der mal Drum’n’Bass-Rhythmen, mal shuffle, mal drive spielte, war frappierend. Der Drummer unterlegte die wie aus einem Vulkan herausbrechenden, enigmatischen Themen mit rhythmischer Rafinesse und verband sie zu einem befreit dahingleitenden Fluss an Ideen. Das war Jazz von heute. Eigenständig. Europäisch. Süchtig machend. Hello Monster!
Das zweite Auftakt-Konzert für das JAZZWELTEN-Festival 2009 findet mit dem Erik Truffaz Trio am 28. Februar 2009 statt.
Mathias Bäumel