Zum Eröffnungskonzert der Spielzeit erklang im “Großen Sendesaal Dresden-Leuben” (so der Intendant der Staatsoperette, Wolfgang Schaller) unlängst die lange vergessene Rundfunkmusik “Leben in dieser Zeit” nach einem Text von Erich Kästner. Orchester, Chor und Solisten der Staatsoperette Dresden hatten das
Werk vorher in der Lukaskirche im Rahmen einer Studioproduktion für den MDR aufgezeichnet. Martin Morgenstern hat mit dem Musikchef von FIGARO, dem Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks, Dr. Steffen Lieberwirth, über das ambitionierte Projekt gesprochen.
Wie kam es zu der Kooperation der Staatsoperette mit dem MDR?
Vor vier Jahren war ich bei der Operettengala der Staatsoperette an der Elbe zu Gast. Da hörte ich den ersten Satz der “Tänzerischen Suite” von Eduard Künneke. Diese Komposition hat mich ganz spontan vom Stuhl gerissen. Ich war begeistert, bekam eine Gänsehaut und dachte: das ist ja sensationell – ich hatte nie so zündende vergleichbare Unterhaltungsmusik gehört!
Ich habe dann Ernst Theis angesprochen und merkte, dass die Chemie zwischen uns stimmt – für eine Produktion eine ganz wichtige Sache. Er erzählte mir noch ein paar Einzelheiten, und dann kam es tatsächlich zur Produktion. Künneke schrieb die Suite 1929, und wenn man sich diese Musik anhört, glaubt man gar nicht, wie viel davon in späteren Jahren von den „Hollywood”-Komponisten in Amerika kopiert worden ist; im gewissen Sinne ist es ein Schlüsselwerk der Zeit. In Deutschland blieben diese Kompositionen Einzelfälle und wanderten samt und sonders nach 1933 in den Müllkübel der so genannten “Entarteten Musik”.
Sie haben sich ausführlich mit Radiogeschichte beschäftigt und sehr viel Material und Dokumente aus der Zwischenkriegszeit gesammelt. Wie sieht es mit der Quellenlage aus, gibt es vielleicht sogar noch Aufnahmen aus der Zeit, an denen man heutige Interpretationen messen könnte?
Die Rundfunksender druckten jedes Jahr Kataloge, in denen Aufnahmen und Sendetermine aufgeführt sind. Zum größtenteils wurde ja nicht aufgezeichnet, sondern live gespielt. Aber auch Aufnahmen auf Schallplatten gab es: Diese wurden von innen nach außen während der Darbietung auf Wachsmatrizen geschnitten und hatten eine maximale Spielzeit von viereinhalb Minuten pro Seite. Um ein ganzes Werk aufzuzeichnen, benötigte man also oftmals bis zu 30 Schallplatten, die dann hintereinander abgespielt wurden. Von denen hat sich tatsächlich eine ganze Menge erhalten. In den 20er Jahren begann der Rundfunk, zeitgenössische Werke zu bestellen und aufzuführen. Die Aufforderung ging an Komponisten wie Hersteller von Radiogeräten: Leute, komponiert neues für das Radio und probiert aus, wie leistungsfähig die Rundfunkgeräte sind! Die Komponisten dachten sich viele neue akustische Tricks aus so werden zum Beispiel Alltagsgeräusche zugespielt -, und auch die Entwicklung der Rundfunktechnik machte einen großen Sprung.
Wie kam es schließlich zu Ihrem Vorhaben, mit der Staatsoperette Radiomusiken der Zwischenkriegszeit einzuspielen?
Mit der Künneke-Aufnahme waren wir auf einmal ganz nah am Puls der Zeit. Man merkte: hier spielt ein Orchester, das den “Groove” der Zeit ‘rüberbrachte und auch den Umgang mit der leichten Muse gewöhnt war. Dazu ein Dirigent, der sich in die Zeit hineindachte und stilistische Details sehr genau ausarbeitete. Da entschied sich der MDR, dranzubleiben und weitere Rundfunkmusiken zu produzieren. Im Laufe der nächsten Jahre sind so Einspielungen des “Berliner Requiems” von Kurt Weill nach Texten von Bertolt Brecht, Franz Schrekers “Kleiner Suite für Kammerorchester” oder Ernst Tochs “Bunter Suite” (alle 1929/1930 komponiert) und in diesem Herbst auch das Radiospiel “Leben in dieser Zeit” von Edmund Nick nach einem Text von Erich Kästner entstanden. Diese Aufnahmen gingen über unsere ursprünglichen Pläne weit hinaus: hatten wir es da noch mit Orchesterwerken zu tun, kamen nun Gesangssolisten und sogar der Chor hinzu. Sensationell ist: durch den Verbund der Staatsoperette bekam die Einspielung eine gewachsene und natürlich atmende Form. Die Sänger deklamieren nicht mit großem Pathos, sondern agieren mit spielerischer Leichtigkeit; genau das Kriterium, das in solchen Stücken unheimlich schwer umzusetzen ist. Nehmen wir nur die Musik von Edmund Nick: das muss swingen! Und im nächsten Moment haben wir monumentale Star-Wars-Effekte… Toll.
“Nah am Puls der Zeit”: die Musiker bei den Aufnahmesitzungen (Foto: H. Gerasch)
“Leben in dieser Zeit” spielt in einer Zeit der allgemeinen Depression, die Börsen sind weltweit zusammengebrochen, und der “kleine Mann” guckt aus seinem Alltagstrott heraus mit Unverständnis auf “die da oben”. Insofern fallen Anknüpfungspunkte zur heutigen Zeit leicht. Aber wie sieht es mit einer “historisch-kritischen Aufführungspraxis” aus? Soweit ich weiß, sind Aufnahmen von Nicks Musik nur noch in wenigen Bruchteilen erhalten?
Wir arbeiten mit dem, was wir haben; die frühesten erhaltenen Aufnahmen von Nicks Musik stammen aus den späten fünfziger Jahren. So müssen wir uns in die ursprüngliche Atmosphäre hineindenken, die alten Charaktere aufleben lassen. Es gibt eine Aufnahme eines Gesprächs von Edmund Nick mit Erich Kästner, das sozusagen als “Bonusmaterial” der zukünftigen CD-Veröffentlichung beigegeben wird. Soweit es möglich ist, arbeiten wir also historisch-kritisch, aber natürlich muss das mit einem Schuss Sinnlichkeit verbunden werden. Den Musikern und Sängern macht die Arbeit jedenfalls unglaublich viel Spaß.
Welche musikhistorische Begleitung erfährt das Projekt, welche Begleiter haben Sie gewonnen?
Von Seiten des Senders wäre Dr. Jens-Uwe Völmecke zu nennen, ein ausgewiesener Fachmann für Musik dieses Genres, also der anspruchsvollen U-Musik, die in Deutschland eine lange Tradition hat; Uwe Schneider, der Mediendramaturg der Staatsoperette, ist fest eingebunden, und auch Ernst Theis arbeitet quellenkritisch und wissenschaftlich mit, legt etwa Wert auf Instrumentierungs- und Besetzungsfragen. Ich kenne keinen anderen Dirigenten, der sich so intensiv und leidenschaftlich mit diesem Musikgenre auseinandersetzt. Gemeinsames Ziel des ganzen Teams ist es, der historischen Aufführungspraxis so naher wie möglich zu kommen. Das ist schon speziell, wir haben es nämlich oftmals mit nicht ganz so üblichen Instrumenten zu tun: Akkordeon, Banjo, Sousaphon, einer Big-Band, schließlich den Zuspielen von Autohupen oder typischen Geräuschen einer Dampflok…
Herausragend ist daneben die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rundfunkarchiv, von dem wir jedwede Unterstützung bekommen. Und ganz glücklich sind wir, dass jetzt auch andere Sender auf das Projekt aufmerksam geworden sind: DeutschlandRadio ist bei “Leben in dieser Zeit” erstmals als Ko-Produzent beteiligt, und auch der WDR Redakteur János Kereszti, der leider noch während der Produktionsphase ganz plötzlich verstorben ist, war von „Leben in dieser Zeit” so angetan, dass er die Produktion ins Programm von WDR 4 übernommen hat. Leider kann er die endgültige Fassung nun nicht mehr erleben.
Die Radiomusiken kehren gewissermaßen dahin zurück, wo sie herkamen: in den Rundfunk. Im MDR wird “Leben in dieser Zeit” zu einem geschichtlich aufgeladenen Datum, dem 9. November 2008, gesendet. Aber auch eine CD-Edition mit dem Label cpo ist geplant, und die Erschließung weiterer Radiomusiken, nicht?
Ja, im Frühjahr 2009 soll es losgehen mit der Edition. Was die nächsten Pläne für weitere Radiomusiken angeht, sind natürlich erst einmal viele Rechtefragen zu klären. Wichtig ist, dass entsprechend aussagefähiges Notenmaterial existiert. Es gibt da noch ungeheuer viel zu entdecken; was wir bisher beackert haben, war quasi nur die Spitze des Eisberges.
Nicht auszudenken: was wäre da noch gekommen, wenn die Komponisten diese Richtung in Deutschland weiterverfolgt hätten?
Sendetermine »Leben in dieser Zeit«:
8. November, 20.05, WDR 4
9. November, 19.30 Uhr, MDR Figaro