Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es kaum eine Diseuse in Berlin, die nicht Erich Kästners satirische und politische Chansons im Repertoire hatte, kaum eine Zeitung von Format, die nicht Texte Kästners drucken wollte. Berlin in den 20er Jahren,
den „goldenen“, den „wilden“ 20ern. Es sind Jahre am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. Der Dresdner Erich Kästner lebt seit 1927 in Berlin, schreibt Gedichte, Glossen, Reportagen und Rezensionen für die großen Zeitungen und Zeitschriften – als Journalist und Schriftsteller avanciert er zu einem der führenden literarischen Köpfe der Stadt. Viele seiner bekanntesten Werke entstehen hier. Virtuos bedient er den Medienapparat, macht Werbung, nutzt professionell und systematisch die Möglichkeiten von Zeitung, Buchverlagen, Theater, Kabarett, Film, Schallplatte – und Rundfunk.
1929 entstehen erste größere Arbeiten Kästners für den Rundfunk, jenes neue Massenmedium, das sich in aller Stille eingeschlichen hat, wie Kritiker gelegentlich feststellen. „Heute gehört es zum Wohnungsinventar wie Zierschrank und Topfpflanze. Anscheinend unbeteiligt, bedeckt mit Spulen, Drähten, Hartgummischeiben, stehen die magischen Kästen in ihren Ecken“, schreibt 1927 einer der ersten Hörspielautoren, Otto Palitzsch. Im Oktober 1929 hält Kästner im Berliner Rundfunk eine Kinderstunde, zu Silvester 1929 geht seine eigens für diesen Abend entstandene Rundfunk-Revue „Alle Jahre wieder“ über den Äther. Bereits zuvor, am 14. Dezember, wurde Kästners „Leben in dieser Zeit“ als Hörspiel urgesendet. Kästner hatte zum Teil schon veröffentlichte Gedichte, einen Chor und Zwischentexte zu einer Collage montiert, die sich mit dem Moloch Großstadt und der Masse Mensch beschäftigte. Liedhafte Chansons mit ihrer poetischen Bildsprache und der genretypischen starken Textaussage decken die Vielzahl der Themen und wechselnden Stimmungen ab.
Als Kästner mit dem Manuskript in Breslau vorsprach, war man davon schnell begeistert, vor allem Edmund Nick, seit 1924 Leiter der Musikabteilung beim Schlesischen Rundfunk. Kurt Weill sollte es vertonen, dieser winkte, auf der Erfolgswoge seiner „Dreigroschenoper“ schwimmend, jedoch ab. Doch da er Song-Vertonungen Edmund Nicks gehört hatte, sagte er: „Nick, machen Sie das doch!“ Der Erfolg ist groß, sogar Theater beginnen das Hörspiel nachzuspielen. „Leben in dieser Zeit“ wird zum Erfolgsstück der Folgejahre, im Rundfunk und auf über 30 Bühnen. Bis die Nazis seine Autoren 1933 verbieten…
Zum Eröffnungskonzert der Saison 2008/2009 präsentiert die Staatsoperette Dresden am 28. August um 19.30 Uhr Kurt Weills “Kleine Dreigroschenmusik” und Edmund Nicks “Leben in dieser Zeit”. Die Leitung des Abends hat Ernst Theis, durch den Abend führt mit eigenen Texten Peter Ensikat. Es singen u.a. Elke Kottmair (Chansonette), Christian Grygas (den Durchschnittsmenschen Schmidt) und Marcus Günzel (einen vielwissender Sprecher). Die Dialogregie hat Walter Niklaus, der bereits mehrfach an der Staatsoperette Regie geführt hat, übernommen.
Die Tochter von Edmund Nick, Dagmar Nick, eine der bedeutendsten Lyrikerinnen nach 1945, wird zur Vorstellung anwesend sein und im Anschluss einen kleinen Vortrag über ihren Vater, Erich Kästner und die Anfänge des Rundfunks halten.
Uwe Schneider